
Hamburg. Der Fall um den mutmaßlichen Sexualstraftäter mit dem Online-Namen „White Tiger“ gilt als einer der schwerwiegendsten Fälle digitaler Gewalt in Deutschland. Der 21-jährige Deutsch-Iraner steht im Verdacht, Kinder aus mehreren Ländern über das Internet in den Tod getrieben zu haben. Mit über 200 Straftaten, darunter Mord und schwerer sexueller Missbrauch, zeigt der Prozess eine erschütternde neue Dimension von Online-Verbrechen.
Die Anklage: Mord, Missbrauch und Cybergrooming im globalen Ausmaß
Die Hamburger Staatsanwaltschaft hat gegen Shahriar J., der im Netz unter dem Namen „White Tiger“ auftrat, Anklage erhoben. Ihm werden insgesamt 204 Straftaten vorgeworfen, darunter Mord in einem Fall, versuchter Mord in mehreren weiteren Fällen sowie schwere sexuelle Gewalt gegen Kinder. Der Fall hat international für Aufsehen gesorgt – nicht nur wegen der Grausamkeit der Taten, sondern auch wegen der Art, wie sie begangen wurden.
Der Täter soll über soziale Netzwerke und Gaming-Plattformen Kontakt zu Minderjährigen hergestellt haben. Über Plattformen wie Discord, Telegram oder auch Minecraft und Roblox knüpfte er Kontakte, gewann Vertrauen und nutzte gezielte Manipulationstechniken, um seine Opfer in Abhängigkeit zu bringen. Diese Form des sogenannten Cybergroomings – das gezielte Anbahnen sexueller Kontakte mit Minderjährigen im Internet – spielt im Prozess eine zentrale Rolle.
Was ist Cybergrooming und wie funktioniert es?
Beim Cybergrooming suchen Täter gezielt nach Jugendlichen, häufig solchen mit psychischen Problemen oder familiären Konflikten. Sie bauen über Wochen oder Monate Vertrauen auf, geben sich als Gleichaltrige aus und fordern schließlich intime Fotos oder Videos ein. Kommen die Jugendlichen dem nach, beginnt oft eine Phase der Erpressung – sogenannte „Sextortion“. In besonders grausamen Fällen, wie bei „White Tiger“, sollen Kinder zu Selbstverletzungen und sogar zum Suizid gedrängt worden sein.
Der Weg des Täters: Vom Medizinstudenten zum digitalen Sadisten
Laut Ermittlern begann Shahriar J. seine Aktivitäten im Jahr 2021. Damals war er selbst noch jugendlich und studierte Medizin in Hamburg. Unter verschiedenen Pseudonymen soll er Kontakt zu mehr als 120 Minderjährigen aufgenommen haben. Ermittler sprechen von einer „systematischen, sadistischen Motivation“. Das Ziel war offenbar, Kinder zu kontrollieren, zu erniedrigen und ihre Handlungen zu dokumentieren. Diese Videos wurden teilweise als „Trophäen“ innerhalb einer geheimen Online-Gruppe ausgetauscht.
Die Gruppe „764“ – ein Netzwerk der Grausamkeit
„White Tiger“ soll laut Anklage der Kopf einer internationalen Gruppe gewesen sein, die sich selbst „764“ nannte. In dieser Gruppierung vernetzten sich Täter aus mehreren Ländern, um Inhalte mit sexualisierter Gewalt gegen Kinder auszutauschen. Ermittler aus Deutschland, den USA, Kanada und Großbritannien arbeiten gemeinsam mit dem FBI an der Aufklärung. Opfer wurden gezielt in psychischen Krisen manipuliert, mit Drohungen überzogen und zu selbstverletzendem Verhalten gezwungen.
- Opferalter: Zwischen 11 und 15 Jahren
- Länder: Deutschland, USA, Kanada, England
- Anklagepunkte: 204, darunter Mord, versuchter Mord, sexueller Missbrauch, Nötigung, Kinderpornografie
- Hauptvorwurf: Mord in mittelbarer Täterschaft – Opfer zum Suizid getrieben
Internationale Ermittlungen und Versagen der Behörden
Schon 2021 lagen erste Hinweise aus den USA vor. Das „National Center for Missing and Exploited Children“ (NCMEC) hatte deutsche Behörden über verdächtige Aktivitäten des Accounts „White Tiger“ informiert. Dennoch wurde der Fall zunächst nicht weiterverfolgt. Erst als ein 13-jähriger Junge in den USA Suizid beging und ein Zusammenhang zu dem deutschen Täter hergestellt wurde, nahmen die Ermittlungen an Fahrt auf. Im Juni 2025 wurde Shahriar J. schließlich in Hamburg festgenommen.
Wie konnte der Täter so lange unbehelligt agieren?
Viele Beobachter fragen sich: Wie ist es möglich, dass ein derart schwerwiegendes Muster von Taten über Jahre unentdeckt blieb? Kriminalexperten verweisen auf die strukturellen Schwierigkeiten bei der Verfolgung digitaler Verbrechen. Internationale Zuständigkeiten, verschlüsselte Kommunikationskanäle und fehlende Ressourcen in den Cyber-Ermittlungsbehörden erschweren die Strafverfolgung erheblich.
„Wir stehen hier vor einer neuen Form von digitalem Terrorismus“, sagt Julia von Weiler, Expertin für Online-Kinderschutz. „Die Täter agieren organisiert, mit klarer Hierarchie, und sie nutzen das Internet als Tatmittel zur Kontrolle und Zerstörung.“
Die juristische Dimension: Mord in mittelbarer Täterschaft
Ein besonders komplexer Punkt in der Anklage betrifft den juristischen Begriff der mittelbaren Täterschaft. Dieser beschreibt Fälle, in denen der Täter eine andere Person so manipuliert oder zwingt, dass diese selbst zur Ausführung der Tat wird. Im Fall „White Tiger“ bedeutet das: Der Angeklagte soll Opfer so stark unter Druck gesetzt haben, dass sie sich selbst töteten – und somit „durch seine Hand“ starben.
Juristen betonen, dass dieser Ansatz neuartig ist. Bisher war Mord in mittelbarer Täterschaft vor allem aus Fällen bekannt, in denen Täter psychisch abhängige Menschen zu Taten veranlassten. Die Anwendung auf Cyberverbrechen zeigt eine neue Dimension strafrechtlicher Verantwortung.
Rechtliche und kriminalistische Herausforderungen
Der Fall stellt Ermittler und Gerichte gleichermaßen vor schwierige Fragen: Wie weit reicht die Verantwortung eines Täters im digitalen Raum? Wie kann Schuld nachgewiesen werden, wenn physischer Kontakt nie bestand? Und welche Strafen sind angemessen, wenn psychische Manipulation zu realem Tod führt?
Ein Strafrechtsexperte aus Hamburg formulierte es so: „Das Internet hat die klassischen Kategorien von Täter und Opfer verschoben. In virtuellen Räumen können Täter ihre Macht ungestört ausüben – ohne Spuren, aber mit tödlichen Konsequenzen.“
Das Ausmaß sexualisierter Gewalt im Netz
Laut Bundeskriminalamt wurden allein im Jahr 2023 mehr als 16.000 Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern registriert. Fachstellen gehen jedoch von einer Dunkelziffer von bis zu einer Million betroffener Kinder und Jugendlicher in Deutschland aus. Die Zahl der Delikte im digitalen Raum steigt rasant: Im Bereich „Verbreitung kinderpornografischer Inhalte“ wurde ein Anstieg von über 30 % gegenüber dem Vorjahr gemeldet.
Digitale Tatorte und Plattformen
Nach Angaben der Ermittler nutzte „White Tiger“ gängige Plattformen wie Discord, Telegram und Online-Spiele, um seine Opfer zu finden. Dort lockte er sie mit falschen Identitäten, oft als Gleichaltriger. Nach dem Vertrauensaufbau folgte die Erpressung: Drohungen, intime Aufnahmen zu veröffentlichen, führten bei mehreren Kindern zu psychischem Zusammenbruch.
Wie können Kinder und Eltern sich schützen?
- Eltern sollten regelmäßig mit ihren Kindern über Online-Kontakte sprechen und Vertrauen fördern.
- Jugendliche müssen lernen, persönliche Daten niemals leichtfertig preiszugeben.
- Verdächtige Kontakte sollten umgehend bei Plattformen oder der Polizei gemeldet werden.
- Hilfsorganisationen wie jugendschutz.net und die Online-Beratungsplattform Juuuport bieten direkte Hilfe.
Die gesellschaftliche Dimension: Ein Weckruf für den digitalen Kinderschutz
Der Fall „White Tiger“ hat eine gesellschaftliche Debatte ausgelöst. Politik, Strafverfolgung und Kinderschutzorganisationen fordern mehr Mittel, Aufklärung und Prävention. Der Deutsche Kinderschutzbund sprach von einem „Weckruf für alle Eltern und Schulen“. Auch international hat der Fall neue Kooperationsabkommen zwischen Polizei- und Justizbehörden angestoßen.
Die Expertin Julia von Weiler bezeichnete die Taten als „terroristische Dimension sexueller Gewalt“. Damit deutet sie auf ein Phänomen hin, das über Einzeltaten hinausgeht – eine digital vernetzte Szene, die Leid und Kontrolle als Machtinstrument nutzt. Diese Einschätzung teilt auch das Bundeskriminalamt, das von einer „zunehmend organisierten Struktur“ in entsprechenden Fällen spricht.
Online-Debatten und Stimmen aus den sozialen Medien
In Foren und auf Plattformen wie Reddit und X (vormals Twitter) diskutieren Nutzer intensiv über mögliche Ermittlungsfehler und die Rolle der Behörden. Viele User kritisieren, dass Warnsignale schon 2021 übersehen wurden. Gleichzeitig fordern Betroffene und Aktivisten strengere Kontrollen von Kommunikationsplattformen, um Täterstrukturen früher zu erkennen.
In der Tech-Community werden zudem technische Lösungen gefordert – etwa KI-gestützte Erkennungssysteme, die verdächtige Kommunikationsmuster erkennen können, ohne den Datenschutz zu verletzen. Sicherheitsexperten warnen allerdings, dass kein System absolute Sicherheit bieten kann.
Was bleibt: Zwischen Entsetzen und Aufbruch
Der Fall „White Tiger“ offenbart die dunklen Seiten des digitalen Zeitalters. Er zeigt, wie leicht Täter über Landesgrenzen hinweg agieren können – und wie schwer es für Ermittler ist, sie zu stoppen. Gleichzeitig markiert er einen Wendepunkt: Die Strafverfolgungsbehörden weltweit ziehen Konsequenzen, und der gesellschaftliche Druck wächst, Kinder besser zu schützen.
Für die Opfer und ihre Familien bleibt die Tragödie unermesslich. Der anstehende Prozess in Hamburg wird zeigen, wie weit das deutsche Strafrecht bereit ist zu gehen, um auch im digitalen Raum Gerechtigkeit herzustellen. Der Name „White Tiger“ steht damit sinnbildlich für eine neue Form von Verbrechen – eiskalt, anonym, und doch erschütternd real.