
Stuttgart – Ein historisches Bauwerk wird zum Zentrum moderner Mobilitätskonflikte: Der Schwabtunnel, erbaut Ende des 19. Jahrhunderts, steht heute sinnbildlich für die Herausforderungen einer urbanen Verkehrswende. Tausende Autos, zu wenig Platz für Radfahrende und Fußgänger – und der wachsende Druck aus der Bevölkerung. Am vergangenen Freitag gingen erneut Menschen auf die Straße, um für mehr Sicherheit und Veränderung zu demonstrieren.
Bild exemplarisch
Ein Tunnel als Symbol einer gescheiterten Verkehrspolitik?
Der Schwabtunnel verbindet seit über 125 Jahren den Stuttgarter Westen mit dem Süden. Täglich rollen rund 15.000 bis 20.000 Kraftfahrzeuge durch das nur 125 Meter lange Bauwerk – das unter Denkmalschutz steht. Der Tunnel ist eng, dunkel, laut – und zugleich Teil vieler Schulwege, Pendelrouten und Freizeitwege für Radfahrer und Fußgänger. Doch der Platz im Tunnel reicht nicht aus, um allen sicher Raum zu geben.
„Radfahren durch den Schwabtunnel ist heute ein Risiko“, sagte ein Stuttgarter Stadtrat kürzlich. Die Aussage steht für ein weitverbreitetes Gefühl unter den Menschen, die sich ohne Auto fortbewegen. Besonders Familien mit Kindern empfinden die Situation als bedrohlich. „Mein Sohn will nicht mehr mit dem Fahrrad fahren – und ich habe kein Argument, ihn zu überzeugen“, schrieb ein Nutzer auf X (vormals Twitter).
Die Demonstration: Menschen fordern sichere Wege
Am 4. Juli 2025 versammelten sich hunderte Menschen, darunter viele Familien, Umweltinitiativen und Verkehrswende-Aktivist:innen, zu einer gemeinsamen Demonstration für mehr Sicherheit im Schwabtunnel. Die Teilnehmer:innen – aufgeteilt in einen Rad- und einen Fußmarsch – starteten getrennt, um schließlich im Tunnel zusammenzutreffen. Die Polizei sicherte die Veranstaltung ab, es kam zu keinen Zwischenfällen.
Im Zentrum der Forderungen: eine Verkehrsregelung, die den Tunnel künftig ausschließlich für Busse, Fahrräder und Fußgänger freigibt. Autofahrer sollen außen herumgeleitet werden. Unterstützt wird das Anliegen von einem breiten Bündnis: ADFC, VCD, Greenpeace, BUND, Kidical Mass, Zweirat und weitere Organisationen riefen zur Teilnahme auf.
Warum der Protest gerade jetzt?
Die Situation im Tunnel hat sich laut vielen Nutzer:innen verschärft. Immer häufiger berichten Radfahrer:innen davon, trotz Überholverbots mit nur wenigen Zentimetern Abstand überholt zu werden – oftmals von Bussen oder Lieferverkehr. Auch Schulklassen und Lehrer:innen sprechen von einem „Hochrisikogebiet“. Eltern schildern, dass sie Umwege von bis zu zwei Kilometern in Kauf nehmen, um den Tunnel zu vermeiden.
Statistiken: Die Realität auf Stuttgarts Straßen
Die Unfallstatistik für das Jahr 2024 zeigt: Radfahrer:innen und Pedelec-Nutzer:innen sind zunehmend gefährdet. Während die Gesamtzahl der Fahrradunfälle in Stuttgart bei 436 stagnierte, stieg die Zahl der Pedelec-Unfälle um 23 % auf 248 an. Gerade an neuralgischen Punkten wie dem Schwabtunnel schlagen sich diese Zahlen in Angst und Vermeidungsverhalten nieder – mit Folgen für die Mobilitätswende.
Jahr | Fahrradunfälle | Pedelec-Unfälle | Verletzte Fußgänger |
---|---|---|---|
2023 | 437 | 201 | 312 |
2024 | 436 | 248 | 327 |
Der Trend ist eindeutig: Der Straßenraum wird gefährlicher für die „schwächeren“ Verkehrsteilnehmer. Und im Schwabtunnel konzentriert sich dieser Druck auf engstem Raum.
Politische Reaktionen und Lösungsansätze
Der Bezirksbeirat West zeigte sich offen für eine Verkehrsversuchsphase mit einer sogenannten Umweltspur. Diese würde ausschließlich für Busse, Fahrräder und Einsatzfahrzeuge zugänglich sein. Unterstützung kam auch aus den Reihen von SPD/Volt, Grünen und Linke/SÖS. Der Bezirk Süd hingegen äußerte Skepsis und verwies auf Ausweichverkehre und mögliche Belastungen in angrenzenden Straßen.
Kurzfristige Maßnahmen in der Diskussion
- Tempo-30-Zone innerhalb des Tunnels
- Deutliche Piktogramme auf der Fahrbahn zur Sensibilisierung
- Aufstellen von festen Pollern zur Fahrbahnverengung
- Schutzstreifen oder Sharrow-Markierungen
- Verstärkte Polizeipräsenz zur Überwachung des Überholverbots
Einige Bürger schlagen sogar pragmatische Lösungen wie versenkbare Poller oder eine automatische Zugangssperre für Pkw zu Stoßzeiten vor – inspiriert von Verkehrskonzepten in Amsterdam oder Kopenhagen.
Emotionen, Frust und Resignation
Die Diskussion um den Tunnel ist nicht nur eine um Verkehrskonzepte, sondern auch eine zutiefst emotionale. In sozialen Netzwerken melden sich zahlreiche Menschen zu Wort, die ihre alltäglichen Erlebnisse teilen. Einige sprechen sogar von „Aggressionen“ und „militanter Stimmung“ – sowohl auf Seiten der Autofahrenden als auch bei Radler:innen.
„Wie soll man da nicht militant werden, wenn man ständig bedrängt, angehupt und geschnitten wird?“ – Nutzer auf Reddit
Diese Aussagen zeigen: Die Verkehrspolitik in Stuttgart steht unter großem Erwartungsdruck. Gleichzeitig schwindet das Vertrauen, dass Behörden und Politik die richtigen Weichen für eine nachhaltige und sichere Stadtentwicklung stellen.
Der Schwabtunnel als Prüfstein für die Fahrradstadt
Stuttgart verfolgt seit 2019 das Ziel, zur „Fahrradstadt“ zu werden. Der Radverkehrsanteil lag 2022 bei 14 % – das Ziel für 2030 liegt bei 25 %. Doch aus Sicht vieler Bürger:innen ist dieses Ziel gefährdet, wenn neuralgische Stellen wie der Schwabtunnel nicht entschärft werden.
Das Problem: Die bestehende Infrastruktur wurde jahrzehntelang auf den Autoverkehr hin optimiert. Der Schwabtunnel wurde nicht für das gleichberechtigte Miteinander von Autos, Fahrrädern und Fußgängern konzipiert – er wurde gebaut, als das Automobil noch als Symbol des Fortschritts galt. Heute muss er plötzlich ein multifunktionales Bindeglied in einer Stadt der Zukunft darstellen.
Was sagen die Betroffenen?
Interviews und Erfahrungsberichte zeigen ein breites Meinungsspektrum:
- „Wir fahren nicht mehr durch – lieber nehmen wir jeden Tag den Umweg.“ – Familie mit Schulkind
- „Ich habe schon zweimal fast einen Unfall gehabt – beim dritten Mal höre ich auf zu radeln.“ – Alltagsradlerin aus Stuttgart-Süd
- „Wenn ein Kind hier überfahren wird, ist das Geheul groß. Jetzt handeln!“ – Aktivist bei der Demonstration
Rechtliche Grauzonen und Nutzungskonflikte
Ein weiterer Aspekt: Die Gehwege im Tunnel sind zwar für Radfahrer:innen freigegeben, doch eine Pflicht zur Nutzung besteht nicht. Das sorgt regelmäßig für Missverständnisse, Konflikte und gefährliche Situationen zwischen Fußgängern und Radfahrenden.
Ein Radfahrer auf Reddit erklärt: „Ich werde auf dem Gehweg angepöbelt, obwohl ich dort fahren darf – aber nicht muss. Auf der Straße wiederum hupt man mich weg.“ Solche Berichte zeigen, wie stark die Unsicherheit im Alltag ist – nicht nur verkehrstechnisch, sondern auch sozial.
Fazit: Der Tunnel als Stadtlabor
Der Schwabtunnel ist weit mehr als ein Verkehrsbauwerk. Er ist ein Symbol für das Ringen um die richtige Richtung in der urbanen Mobilität. Die Demonstration vom 4. Juli hat deutlich gemacht: Viele Bürgerinnen und Bürger sind bereit, sich einzusetzen, laut zu werden und Veränderung einzufordern. Die Stadt Stuttgart steht nun vor der Entscheidung, ob sie auf diese Stimmen hört – oder weiter auf Autoverkehr in engen Röhren setzt.
Die Lösung wird nicht einfach. Aber klar ist: Wenn es Stuttgart nicht gelingt, an einem der sichtbarsten Engpässe der Stadt einen sicheren und fairen Raum für alle zu schaffen, wird die Vision der Fahrradstadt Stück für Stück unglaubwürdiger.
Ausblick
Eine verkehrsberuhigte Umgestaltung des Schwabtunnels könnte Vorbildcharakter haben – weit über Stuttgart hinaus. Für Eltern, Kinder, Berufspendler, Senior:innen und Menschen mit Mobilitätseinschränkungen wäre sie ein klares Signal: Die Stadt gehört nicht den Autos allein.
Und vielleicht würde dann auch der Sohn einer Twitter-Nutzerin wieder gerne Fahrrad fahren.