
Hamburg, 24. November 2025 – Zwischen belebten Straßen und urbaner Gegenwart liegt ein stiller, geschichtsträchtiger Ort, der seine Besucher mit eindringlicher Klarheit in das Leben jüdischer Kinder und Lehrer im nationalsozialistischen Deutschland eintauchen lässt. Die Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule in der Karolinenstraße ist mehr als nur eine Ausstellung – sie ist ein Ort des Erinnerns, Lernens und Verstehens.
Mitten im Schanzenviertel, einem Viertel voller junger Menschen, Cafés und Kreativität, erinnert das denkmalgeschützte Schulgebäude an die letzte jüdische Mädchenschule Hamburgs, die im Juni 1942 unter dem Druck der NS-Verfolgung schließen musste. Heute befindet sich hier eine eindrucksvoll kuratierte Dauerausstellung, die die Lebenswelt jüdischer Kinder vom Kaiserreich bis zur NS-Zeit in eindrücklichen Bildern, Objekten und Erzählungen dokumentiert.
Eine Schule als Zufluchtsort – und Ort der Verfolgung
Gegründet wurde die Israelitische Töchterschule im Jahr 1884 als Zusammenschluss zweier jüdischer Mädchenschulen. In den folgenden Jahrzehnten entwickelte sie sich zu einer angesehenen Bildungseinrichtung, die kontinuierlich modernisiert wurde. Bereits um 1900 erhielt die Schule eine eigene Turnhalle, später Fachräume für Chemie, Physik und eine Lehrküche – ein Zeichen für den Anspruch auf moderne Mädchenbildung in einer zunehmend industrialisierten Gesellschaft.
Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 begann ein dramatischer Wandel. Immer mehr jüdische Kinder wurden aus öffentlichen Schulen ausgeschlossen und suchten Zuflucht in der Israelitischen Töchterschule. Die einst integrative Bildungseinrichtung verwandelte sich so zu einem letzten Schutzraum vor zunehmender gesellschaftlicher Ausgrenzung.
Die pädagogische Leitung durch Dr. Alberto Jonas und sein Kollegium versuchte bis zuletzt, den Schülerinnen ein Gefühl von Normalität, Würde und Bildung zu geben. Dennoch wurde der Schulbetrieb zunehmend überschattet von Repressionen und antisemitischer Gewalt. Die letzte Klasse verließ das Gebäude am 15. Mai 1942. Nur Wochen später wurden viele der Kinder und Lehrkräfte deportiert – und später ermordet.
Von der Vergangenheit in die Gegenwart: Ausstellung und Vermittlung
Heute wird die Gedenk- und Bildungsstätte von der Hamburger Volkshochschule betrieben. In einer aufwendig konzipierten Dauerausstellung unter dem Titel „Jüdische Kinderwelten“ wird die Geschichte der Israelitischen Töchterschule greifbar. Seit Juli 2025 ist die Ausstellung auf 200 Quadratmeter verdoppelt und thematisch neu gegliedert – in Räume mit Titeln wie „Großstadt“, „Schule“ und „Letzter Ort“.
Die Vermittlungsformen sind modern und sensibel gestaltet: Hörstationen, historische Schulmaterialien, Fotografien, Interviews mit Zeitzeuginnen sowie biografische Objekte wie eine Schultasche oder Schlittschuhe machen das jüdische Kinderleben vor dem Holocaust lebendig. Besonders im Raum „Letzter Ort“ wird dokumentiert, wie sich die Schule in den Jahren 1933 bis 1942 in einen Zufluchtsort verwandelte – und schließlich verstummte.
„Die neue Dauerausstellung … schafft einen Zugang zur Auseinandersetzung mit Ausgrenzung und Verfolgung und öffnet Raum für Fragen, Lernen und Nachdenken“, betont Hamburgs Bildungssenatorin Ksenija Bekeris. Für die Leiterin der Gedenkstätte, Dr. Anna von Villiez, ist die Arbeit dort eine persönliche und gesellschaftliche Aufgabe: „Die Stimmen der Kinder, die hier einst zur Schule gingen, dürfen nicht vergessen werden – sie gehören zur Geschichte dieser Stadt.“
Fragen der Besucher – Antworten der Geschichte
Viele Besucherinnen und Besucher fragen sich vor Ort, was sie in der Gedenkstätte konkret erwartet. Die Antwort: Eine eindrucksvolle Verbindung aus historischer Tiefe und emotionaler Nähe. In der Ausstellung erfahren sie, wie jüdische Mädchen im Hamburg des frühen 20. Jahrhunderts lernten, lebten – und schließlich entrechtet wurden.
Ein weiteres häufiges Anliegen betrifft die Öffnungszeiten. Die Gedenkstätte hat derzeit donnerstags von 14 bis 17 Uhr sowie sonntags von 10 bis 14 Uhr geöffnet. Der Eintritt ist frei, Gruppenführungen sind nach Anmeldung möglich.
Für Schulklassen bietet die Einrichtung spezielle Programme an, die altersgerecht an die Thematik heranführen und auch die Brücke zur Gegenwart schlagen. Dabei steht nicht nur der historische Kontext im Vordergrund, sondern auch die Frage: Wie gehen wir heute mit Ausgrenzung, Diskriminierung und Erinnerung um?
Ein Netzwerk lebendiger Erinnerungskultur
Die Gedenkstätte ist eng vernetzt mit weiteren Erinnerungsorten in Hamburg, wie etwa der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Gemeinsame Veranstaltungen wie „Meeting Erika“ mit der Zeitzeugin Erika Estis, die einst Schülerin der Töchterschule war, verdeutlichen die Bedeutung des Austauschs und der persönlichen Berührungspunkte.
Auch in sozialen Medien zeigt sich, wie lebendig und relevant der Ort ist. Auf Plattformen wie Instagram dokumentieren Besucherinnen und Besucher ihre Eindrücke, Veranstaltungen und Führungen. Posts zur Ausstellung, filmische Reels mit Geschichten aus der NS-Zeit und Beiträge über Kindertransporte oder Lehrerinnenporträts zeigen, wie die Themen der Vergangenheit junge Menschen in der Gegenwart erreichen.
Ein besonders berührender Aspekt, der in sozialen Medien häufig geteilt wird, ist die Darstellung jüdischer Kinder als „Jungs un Deerns“, wie sie in Hamburg sagen würden – neugierig, kreativ, voller Lebenslust. Diese Normalität vor der Katastrophe wird in der Ausstellung nicht nur gezeigt, sondern fühlbar gemacht.
Ein Ort mit bleibender Wirkung
Die Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule ist kein museales Mahnmal im klassischen Sinne, sondern ein lebendiger Ort der Bildung und Begegnung. Sie zeigt nicht nur die Schrecken der Vergangenheit, sondern auch das Potenzial der Erinnerung für eine verantwortungsvolle Zukunft.
In einer Zeit, in der antisemitische Ressentiments wieder spürbar zunehmen und demokratische Werte unter Druck geraten, ist das stille Gebäude in der Karolinenstraße ein kraftvolles Symbol: für Haltung, für Menschlichkeit, für die Kraft des Erinnerns.
































