
Der Stahlriese Thyssenkrupp Steel steht vor dem wohl größten Umbau seiner jüngeren Unternehmensgeschichte. Rund 11.000 Arbeitsplätze sollen wegfallen, Werke schließen, Produktionsmengen sinken. Gleichzeitig will der Konzern Milliarden in klimafreundliche Technologien investieren – und sich damit für eine ungewisse Zukunft wappnen.
Ein historischer Einschnitt bei Deutschlands größtem Stahlhersteller
Was sich aktuell bei Thyssenkrupp Steel Europe abzeichnet, ist mehr als nur ein gewöhnliches Restrukturierungsprogramm. Es ist ein tiefer Einschnitt in die Struktur, Kultur und Zukunftsausrichtung des Unternehmens. Der traditionsreiche Stahlhersteller mit Sitz in Duisburg reagiert damit auf massive wirtschaftliche Herausforderungen: schrumpfende Nachfrage, hohe Energiepreise, globale Konkurrenz und der dringende Zwang zur Dekarbonisierung setzen die gesamte Branche unter Druck.
In einem eigens mit der IG Metall ausgehandelten Sanierungstarifvertrag wurde nun der Weg geebnet, um über die kommenden Jahre rund 40 Prozent der Belegschaft abzubauen – sozialverträglich, aber spürbar. Parallel wird die Produktion von derzeit 11,5 Millionen Tonnen auf maximal 9 Millionen Tonnen jährlich zurückgefahren.
Sanierungstarifvertrag als Rettungsanker
Bis zum 30. September 2030 gilt der neue Sanierungstarifvertrag, der zwischen Thyssenkrupp Steel und der IG Metall abgeschlossen wurde. In ihm ist geregelt, dass die geplanten Stellenstreichungen – rund 11.000 Arbeitsplätze – ohne betriebsbedingte Kündigungen umgesetzt werden. Stattdessen setzt man auf Altersteilzeit, Transfersozialpläne und freiwillige Lösungen. Damit bleibt das Signal an die Belegschaft: Der Wandel soll sozial verträglich erfolgen.
Spürbare Einschnitte für Beschäftigte
Doch der Preis ist hoch. Die durchschnittlichen Einkommenseinbußen für Beschäftigte liegen laut internen Berechnungen bei rund acht Prozent. Konkret bedeutet das den Wegfall von Urlaubsgeld, eine Reduktion des Weihnachtsgeldes, halbierte Zuschläge für Rufbereitschaften sowie eine Absenkung der Wochenarbeitszeit auf 32,5 Stunden. Der Konzern erhofft sich daraus jährliche Einsparungen im niedrigen dreistelligen Millionenbereich – also deutlich über 100 Millionen Euro pro Jahr.
Produktionsrückgang als strategisches Signal
Die Reduktion der Produktionskapazitäten ist ein zentrales Element des Umbaus. Künftig will der Konzern nur noch 8,7 bis 9,0 Millionen Tonnen Rohstahl pro Jahr herstellen – ein Rückgang um mehr als 20 Prozent. Dieser Schritt dient nicht nur der Effizienzsteigerung, sondern ist auch eine Antwort auf die schwächelnde Nachfrage aus der Automobilindustrie, dem Maschinenbau und der Bauwirtschaft.
Standorte unter Druck
Im Zuge der Umstrukturierung ist bereits klar: Es wird nicht bei abstrakten Zahlen bleiben. Das Werk in Kreuztal-Eichen mit rund 500 Mitarbeitenden wird geschlossen. Auch eines der Bochumer Werke wird bis 2028 stillgelegt. Weitere Standortentscheidungen werden derzeit geprüft und sollen bis Herbst finalisiert werden.
Joint Venture mit Daniel Křetínský geplant
Ein wesentlicher Teil der Strategie ist die Beteiligung des tschechischen Unternehmers Daniel Křetínský. Seine EP Corporate Group hält bereits 20 Prozent an der Stahlsparte. In den kommenden Monaten sollen weitere 30 Prozent folgen – mit dem Ziel, ein Joint Venture zu gründen. Damit rückt die teilweise Entflechtung von Thyssenkrupp Steel aus dem Konzernverbund näher. Die Finanzierungszusage für den Umbau hängt maßgeblich an dieser Partnerschaft.
„Wir sind an die Schmerzgrenze gegangen – aber wir haben den Grundstein gelegt, um Beschäftigung und Standorte zu sichern“, sagte Betriebsratschef Tekin Nasikkol.
Die grüne Transformation im Fokus
So schmerzhaft der Umbau ist, so zukunftsweisend ist der zweite große Baustein der Strategie: der Einstieg in die grüne Stahlproduktion. Bis 2030 plant Thyssenkrupp Steel Investitionen in Höhe von bis zu 3,5 Milliarden Euro – vor allem in eine neue Direktreduktionsanlage, die mit Wasserstoff statt Kohle betrieben wird. Ziel ist es, klimaneutralen Stahl zu produzieren und langfristig konkurrenzfähig zu bleiben.
Weg vom Hochofen – hin zur Wasserstoffwirtschaft
Das Herzstück ist der Umbau weg vom klassischen Hochofen hin zur Direktreduktion mit grüner Energie. In einem ersten Schritt sollen 2,5 Millionen Tonnen CO₂-armen Stahl pro Jahr erzeugt werden. Langfristig will der Konzern bis 2045 vollständig klimaneutral produzieren. Diese Transformation ist nicht nur ökologisch notwendig, sondern auch wirtschaftlich alternativlos – denn große Kunden wie Volkswagen oder Siemens fordern zunehmend CO₂-neutrale Lieferketten.
Ein Blick hinter die Kulissen: Konflikte und Kurswechsel
Der Umbau ist auch Ergebnis tiefgreifender interner Konflikte. In den letzten Jahren kam es zu einem Machtkampf im Vorstand, der schließlich zur Abberufung des ehemaligen CEO Osburg führte. Neuer CEO ist Dennis Grimm, der als Mann der Reformen gilt. Mit ihm wurde nicht nur die IG Metall wieder stärker eingebunden, sondern auch die grüne Transformation priorisiert.
Fehlversuche der Vergangenheit als Mahnung
Die aktuelle Entwicklung steht im Schatten früherer strategischer Fehlschläge: Die gescheiterte Fusion mit Tata Steel Europe im Jahr 2019, milliardenschwere Auslandsabenteuer in Brasilien und Alabama sowie ein über Jahre ungelöster Reformstau. All das hat das Vertrauen von Investoren und Mitarbeitenden gleichermaßen belastet.
Markt- und Branchensituation: Der Stahlsektor im Umbruch
Die europäische Stahlindustrie steht unter enormem Druck. Billigimporte aus Asien, Überkapazitäten, hohe CO₂-Preise und Energiepreise machen vielen Herstellern zu schaffen. Während Länder wie China massiv subventionieren, kämpfen deutsche Anbieter mit regulatorischen Hürden und hohen Lohnkosten.
Eine Studie des European Environmental Bureau betont: Der Umstieg auf eine nachhaltige Stahlproduktion erfordert massive Infrastrukturinvestitionen, neue Schrottstrukturen und Fachkräfteaufbau. Laut Modellrechnungen könnten dafür europaweit 35.000 zusätzliche Jobs in der Recyclingwirtschaft entstehen – doch die Finanzierung bleibt offen.
Finanzmärkte sehen Potenzial
Trotz der tiefgreifenden Einschnitte sehen einige Marktanalysten in Thyssenkrupp Steel einen unterschätzten Wert. In Foren wie Reddit wird diskutiert, ob der Konzern durch Beteiligungsverkäufe und die Entflechtung vom Mutterkonzern sogar an der Börse attraktiver werden könnte. Die Rede ist von „Hidden Value“, der durch die Fokussierung auf profitable Sparten gehoben werden könnte.
Was bedeutet der Umbau für die Beschäftigten?
Die Vereinbarung mit der IG Metall bietet eine gewisse Sicherheit: keine betriebsbedingten Kündigungen, langfristige Tarifbindung, Mitbestimmung. Doch der Preis ist hoch – nicht nur finanziell, sondern auch emotional. Viele Beschäftigte bangen um ihre Perspektive, neue Rollen, Weiterbildungen und Umschulungen stehen bevor.
Die IG Metall formulierte es so: „Es war ein Kraftakt. Aber es ist besser, selbst zu gestalten, als sich überrollen zu lassen.“
Antworten auf häufig gestellte Nutzerfragen
Wie viele Stellen will Thyssenkrupp Steel bis 2030 abbauen?
Geplant ist der Abbau von rund 11.000 Arbeitsplätzen – etwa 40 Prozent der Belegschaft. 5.000 Stellen entfallen direkt, weitere 6.000 werden durch Auslagerung oder Verkauf wegfallen.
Welche Werke werden geschlossen?
Das Werk in Kreuztal-Eichen mit rund 500 Beschäftigten wird geschlossen. Auch ein Standort in Bochum soll bis 2028 stillgelegt werden. Weitere Standorte werden derzeit geprüft.
Warum reduziert Thyssenkrupp die Produktion?
Die Reduktion der Produktionsmenge von 11,5 auf maximal 9 Millionen Tonnen ist eine Reaktion auf Überkapazitäten, hohe Kosten und schwache Nachfrage. Ziel ist die Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit.
Was bedeutet der Umbau für die Stahlbranche in Deutschland?
Der Umbau bei Thyssenkrupp könnte Signalwirkung haben. Viele andere Stahlunternehmen stehen vor ähnlichen Herausforderungen. Der Erfolg der Transformation bei Thyssenkrupp könnte zum Vorbild werden – oder zur Mahnung.
Strukturwandel unter Hochspannung
Thyssenkrupp Steel steht an einem Wendepunkt. Der drastische Umbau ist keine Option mehr, sondern eine Notwendigkeit. Zwischen sozialem Kompromiss, wirtschaftlichem Kalkül und ökologischem Anspruch versucht der Konzern, sich neu zu erfinden. Ob dies gelingt, hängt nicht nur von Investitionen und Marktbedingungen ab, sondern auch vom Vertrauen und der Bereitschaft der Beschäftigten, diesen Wandel mitzutragen. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob der traditionsreiche Stahlriese in einer CO₂-neutralen Industrie neue Stärke findet – oder weiter an Substanz verliert.