Kirchliches Arbeitsrecht neu bewertet Kirchen dürfen selbst entscheiden: Verfassungsgericht stärkt ihr Recht auf eigene Personalpolitik

In Politik
Oktober 24, 2025

KARLSRUHE – Das Bundesverfassungsgericht hat im vielbeachteten Fall Egenberger entschieden, dass kirchliche Arbeitgeber ihr Selbstbestimmungsrecht stärker ausüben dürfen. Der Beschluss hebt ein früheres Urteil des Bundesarbeitsgerichts auf und sorgt für eine neue rechtliche Balance zwischen Diskriminierungsschutz und kirchlicher Autonomie. Die Entscheidung betrifft Hunderttausende Beschäftigte in kirchlichen Einrichtungen und löst eine breite gesellschaftliche Debatte aus.

Hintergrund: Der Fall Egenberger als juristischer Wendepunkt

Der Fall um die Sozialpädagogin Vera Egenberger beschäftigt deutsche und europäische Gerichte seit über einem Jahrzehnt. 2012 hatte sie sich beim Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung beworben – auf eine Stelle im Bereich Antirassismusarbeit. Trotz fachlicher Qualifikation wurde sie nicht eingeladen, da sie keiner Kirche angehörte. Egenberger sah darin eine Diskriminierung und klagte. Die Auseinandersetzung führte über das Bundesarbeitsgericht bis hin zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) und schließlich nach Karlsruhe.

Der EuGH entschied 2018, dass Kirchenmitgliedschaft nur verlangt werden darf, wenn diese eine „wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung“ darstellt. Das Bundesarbeitsgericht folgte dieser Argumentation und sprach Egenberger eine Entschädigung zu. Die Diakonie legte daraufhin Verfassungsbeschwerde ein – mit Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht hob das Urteil auf und betonte, dass die Gerichte das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen nicht ausreichend gewürdigt hätten.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Detail

Am 29. September 2025 veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung (Az. 2 BvR 934/19). Der Beschluss betont, dass das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Artikel 4 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 140 GG und Artikel 137 Weimarer Reichsverfassung ein hohes Gut darstellt. Es erlaubt den Kirchen, ihre inneren Angelegenheiten – einschließlich der Personalpolitik – selbst zu ordnen. Diese Freiheit sei integraler Bestandteil der Religionsfreiheit.

Die Richter kamen zu dem Schluss, dass das Bundesarbeitsgericht das Verhältnis zwischen kirchlicher Autonomie und staatlichem Diskriminierungsschutz nicht korrekt abgewogen habe. Das Gericht betonte, dass der Staat zwar die Grundrechte der Arbeitnehmer wahren müsse, zugleich aber nicht in den Kernbereich kirchlicher Selbstbestimmung eingreifen dürfe. Das Verfahren wurde zur erneuten Prüfung an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Eine „salomonische Lösung“ zwischen Staat und Kirche

Rechtsexperten sprechen von einer „salomonischen Lösung“. Das Gericht stärkt die Rechte der Kirchen, ohne das Antidiskriminierungsrecht aufzuheben. Staatliche Kontrolle bleibe grundsätzlich möglich, müsse jedoch mit Respekt vor der religiösen Eigenständigkeit erfolgen. Arbeitsrechtler sehen darin ein wichtiges Signal: Kirchen dürfen selbst entscheiden, ob die Kirchenmitgliedschaft für eine Stelle erforderlich ist, müssen dies aber nachvollziehbar begründen.

Reaktionen: Zustimmung und Kritik zugleich

Vertreter der Kirchen begrüßten den Beschluss als „wichtigen Schritt zur Rechtssicherheit“. Ein Sprecher der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) erklärte: „Dieses Urteil stellt klar, dass wir als kirchliche Gemeinschaft unsere Werte auch im Arbeitsleben leben dürfen.“ Viele kirchliche Einrichtungen sehen sich dadurch bestärkt, ihre personellen Entscheidungen im Einklang mit religiösen Prinzipien zu treffen.

Gewerkschaften und säkulare Verbände reagierten hingegen kritisch. Die Gewerkschaft ver.di etwa bezeichnete das Urteil als „Rückschritt im Arbeitsrecht“. Sie fordert, dass die Sonderregelungen für kirchliche Arbeitgeber abgeschafft werden sollten, da sie zu Benachteiligungen konfessionsloser Bewerber führten. Die Organisation verweist auf zahlreiche Fälle, in denen Bewerber trotz hoher Qualifikation abgelehnt wurden, weil sie keiner Kirche angehören.

Politische Stimmen zur Entscheidung

Auch in der Politik löste das Urteil Diskussionen aus. SPD-Politiker Lars Castellucci nannte das kirchliche Arbeitsrecht „nicht mehr zeitgemäß“. Er betonte, dass die Kirchenmitgliedschaft nur dann verlangt werden dürfe, wenn sie für die konkrete Tätigkeit „gerechtfertigt und wesentlich“ sei. Das Urteil zeige, dass der Reformbedarf im kirchlichen Arbeitsrecht größer denn je sei.

Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht im deutschen Rechtssystem

Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht ist in Deutschland historisch gewachsen. Es gründet sich auf Artikel 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 137 der Weimarer Reichsverfassung. Diese Regelung erlaubt es Religionsgemeinschaften, ihre Angelegenheiten unabhängig vom Staat zu regeln, solange sie sich im Rahmen des allgemeinen Rechts bewegen.

Kirchliche Arbeitgeber – insbesondere Diakonie und Caritas – beschäftigen rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland. Damit sind sie nach dem Staat einer der größten Arbeitgeber im Land. Sie unterliegen einem eigenen System, dem sogenannten „Dritten Weg“. Hier verhandeln Dienstgeber und Mitarbeitervertretungen gemeinsam Arbeitsbedingungen, ohne Gewerkschaften oder Streikrecht.

Das Spannungsfeld zwischen Grundgesetz und Europarecht

Das Verhältnis zwischen kirchlichem Arbeitsrecht und europäischem Diskriminierungsschutz bleibt kompliziert. Der EuGH hatte 2018 die staatliche Kontrolle über kirchliche Einstellungsverfahren gestärkt. Das Bundesverfassungsgericht relativierte diese Entscheidung nun, indem es betonte, dass die deutsche Verfassung den Kirchen ein hohes Maß an Eigenständigkeit gewährt. Damit zeichnet sich ein feines Gleichgewicht zwischen nationalem Verfassungsrecht und EU-Recht ab.

Praktische Auswirkungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber

Das Urteil schafft einerseits Rechtssicherheit für kirchliche Einrichtungen, andererseits Unsicherheit für Bewerbende. Besonders konfessionslose Fachkräfte wissen oft nicht, ob ihre Bewerbung Erfolg haben kann. In Foren und sozialen Netzwerken berichten Nutzer, dass in manchen Regionen Kirchenmitgliedschaft weiterhin als unausgesprochene Voraussetzung gilt, während andere Einrichtungen offener geworden sind.

Kann eine konfessionslose Person eine Stelle bei einem kirchlichen Arbeitgeber bekommen?
Ja, das ist grundsätzlich möglich, wenn die Tätigkeit keine religiöse Bindung erfordert. Allerdings müssen Bewerber damit rechnen, dass die Zugehörigkeit zur Kirche bei bestimmten Aufgaben – etwa in der Seelsorge oder im Bildungswesen – weiterhin als Voraussetzung gilt.

Fragen aus der Praxis: Was gilt nun konkret?

  • Dürfen kirchliche Arbeitgeber die Mitgliedschaft verlangen, wenn die Tätigkeit keine religiöse Funktion hat?
    Nur, wenn die Aufgabe für die kirchliche Identität wesentlich ist. Eine pauschale Forderung nach Kirchenzugehörigkeit ist unzulässig.
  • Kann der Austritt aus der Kirche eine Kündigung rechtfertigen?
    Ja, wenn die Kirchenmitgliedschaft ausdrücklich Bestandteil der Dienstpflicht ist und im Vertrag festgelegt wurde.
  • Welche Grenzen hat das kirchliche Selbstbestimmungsrecht?
    Staatliche Gerichte dürfen prüfen, ob die Forderung nach Kirchenzugehörigkeit verhältnismäßig ist. Absolute Autonomie besteht nicht.

Beispielhafte Abgrenzungen

TätigkeitKirchenmitgliedschaft erforderlich?Begründung
Pfarrer/in, Religionspädagoge/inJaZentrale Rolle in Glaubensvermittlung
Pflegekraft in kirchlichem KrankenhausNur in EinzelfällenKeine direkte religiöse Funktion
Verwaltung, Buchhaltung, ITNeinKeine Verbindung zu religiöser Verkündigung

Das gesellschaftliche Echo: Zwischen Akzeptanz und Ablehnung

In den sozialen Medien ist das Urteil intensiv diskutiert worden. Auf Plattformen wie Reddit oder Twitter äußern viele Nutzer Sorge, dass kirchliche Arbeitgeber wieder zu viel Macht über ihre Beschäftigten erlangen könnten. Andere begrüßen den Beschluss als notwendige Korrektur eines zu weit gefassten Diskriminierungsschutzes, der die religiöse Identität der Kirchen zu stark eingeschränkt habe.

In Foren wie gutefrage.net berichten Beschäftigte, dass es in der Praxis ohnehin längst flexiblere Regelungen gebe. Manche Diakoniebetriebe fragen nicht aktiv nach der Kirchenzugehörigkeit, solange die Wertehaltung mit den Grundsätzen der Einrichtung vereinbar ist. Diese Berichte zeigen, dass zwischen Theorie und Realität häufig eine Lücke besteht.

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung

Kirchliche Einrichtungen spielen im deutschen Sozialwesen eine zentrale Rolle. Sie betreiben Krankenhäuser, Pflegeheime, Kindergärten und Beratungsstellen. Ohne die Mitarbeit konfessionsloser Fachkräfte könnten viele dieser Institutionen ihren Betrieb kaum aufrechterhalten. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat daher nicht nur juristische, sondern auch gesellschaftliche Tragweite. Es zwingt die Kirchen, künftig noch genauer zu definieren, wann eine Kirchenmitgliedschaft tatsächlich erforderlich ist.

Ein komplexes Zusammenspiel von Rechten

Der Beschluss zeigt eindrucksvoll, wie komplex das Verhältnis von Religionsfreiheit, Gleichbehandlung und Arbeitsrecht ist. Auf der einen Seite steht das individuelle Grundrecht auf Gleichbehandlung, auf der anderen Seite das institutionelle Recht der Kirche auf Selbstbestimmung. Das Bundesverfassungsgericht versucht, beide Positionen in Einklang zu bringen – ein Balanceakt zwischen Tradition und Moderne.

Wie geht es weiter?

Das Bundesarbeitsgericht muss den Fall Egenberger nun erneut prüfen und dabei die verfassungsrechtlichen Vorgaben berücksichtigen. Es bleibt abzuwarten, ob daraus eine generelle Neuausrichtung des kirchlichen Arbeitsrechts resultiert. Viele Beobachter erwarten, dass der politische Druck auf eine Reform zunehmen wird. Schon jetzt fordern Juristen und Politiker klarere gesetzliche Regelungen, um Konflikte zwischen Kirchenrecht und Arbeitsrecht künftig zu vermeiden.

Schlussbetrachtung: Zwischen Glauben, Recht und Gesellschaft

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist weit mehr als eine juristische Entscheidung – es ist ein Spiegelbild gesellschaftlicher Wertefragen. Es zeigt, wie schwierig es ist, in einem säkularen Staat das religiöse Selbstverständnis von Kirchen mit den Grundrechten aller Bürger zu vereinen.
Kirchliche Arbeitgeber erhalten durch das Urteil zwar mehr Entscheidungsfreiheit, tragen aber auch eine größere Verantwortung: Sie müssen glaubwürdig darlegen, warum eine Kirchenmitgliedschaft für bestimmte Tätigkeiten notwendig ist. Für Arbeitnehmer bedeutet dies, dass Transparenz und Kommunikation künftig entscheidender sein werden als starre Vorgaben.

Insgesamt markiert die Entscheidung von Karlsruhe einen Wendepunkt im deutschen Arbeitsrecht. Sie stärkt das kirchliche Selbstbestimmungsrecht, fordert aber zugleich zu einer neuen Fairness im Umgang mit Vielfalt und Glaubensfreiheit auf. Zwischen Staat, Kirche und Gesellschaft bleibt die Suche nach dem richtigen Gleichgewicht eine Daueraufgabe – und der Fall Egenberger wird noch lange als Referenzpunkt dienen.

Avatar
Redaktion / Published posts: 2851

Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.