Kritik an Body-Cam Polizist schießt auf gehörloses Mädchen – Wo sind die Videoaufzeichnungen

In Regionales
November 24, 2025

Bochum, 17. November 2025 – Es ist eine ruhige Novembernacht in Bochum, als der Einsatz beginnt. Ein zwölfjähriges Mädchen, vermisst, auf lebenswichtige Medikamente angewiesen. Als die Polizei eintrifft, endet der Versuch der Hilfe in einem dramatischen Schuss. Die Bodycams blieben aus – und eine ganze Gesellschaft stellt Fragen.

Ein vermisstes Mädchen, ein dramatischer Einsatz

Der Hintergrund: Ein gehörloses, zwölfjähriges Mädchen war zuvor aus einer betreuten Wohngruppe in Münster verschwunden. Wegen einer chronischen Erkrankung ist sie dringend auf Insulin angewiesen. Die Spur führte zur Wohnung ihrer Mutter in Bochum, die ebenfalls gehörlos ist und der das Sorgerecht entzogen wurde. Am 17. November in den frühen Morgenstunden betrat die Polizei die Wohnung – begleitet von einem Schlosser.

Was dort genau geschah, wird derzeit noch ermittelt. Laut Angaben der Behörden sei das Mädchen den Beamten mit zwei Messern entgegengelaufen. Ein Beamter feuerte aus einer Dienstwaffe, ein anderer setzte gleichzeitig ein Elektroschockgerät (Taser) ein. Das Mädchen wurde im Bauch getroffen und lebensgefährlich verletzt.

NADR News berichtete hier über den Fall

Polizei schießt in Bochum gehörlose Zwölfjährige nieder: Was bislang bekannt ist

Warum keine Bodycam-Aufzeichnungen existieren

Besonders heikel: Es existieren keine Videoaufzeichnungen des Einsatzes – obwohl die Beamten mit Bodycams ausgestattet waren. Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul erklärte: „Es gibt in diesem Fall keine Bodycam-Aufnahmen.“ Nach geltendem Recht in NRW müssen Bodycams bei Einsätzen in Wohnungen nur dann aktiviert werden, wenn eine konkrete Gefährdungslage vorliegt – was laut Einsatzprotokoll zunächst nicht angenommen wurde.

Diese Regelung steht nun in der Kritik. Fachleute und Aktivisten fordern eine Überarbeitung. Die fehlenden Aufnahmen erschweren nicht nur die Aufklärung, sondern werfen auch Zweifel an der Transparenz des Polizeieinsatzes auf.

Was sagt das Gesetz zum Bodycam-Einsatz?

Die Rechtslage in Deutschland ist komplex. Bodycams dürfen nicht dauerhaft laufen, sondern müssen gezielt aktiviert werden. In NRW gilt, dass eine Bodycam in einer Wohnung nur dann eingesetzt werden darf, wenn „eine gegenwärtige Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit“ besteht. Diese Einschätzung obliegt jedoch den Einsatzkräften selbst – ein Interpretationsspielraum, der in brenzligen Situationen wie dieser zunehmend problematisch erscheint.

Kommunikation mit Gehörlosen – ein strukturelles Problem

Ein weiterer zentraler Kritikpunkt: Weder das Mädchen noch ihre Mutter konnten sich durch Lautsprache verständigen – beide sind gehörlos. Ein Gebärdensprachdolmetscher war zum Zeitpunkt des Einsatzes nicht vor Ort. Experten und Interessenvertretungen der Gehörlosen kritisieren dies scharf. Der Anspruch auf barrierefreie Kommunikation ist gesetzlich verankert, wird jedoch im Alltag – besonders bei Polizeieinsätzen – häufig vernachlässigt.

Eine gehörlose Influencerin äußerte ihre Betroffenheit über die sozialen Medien: Sie empfinde „seit Jahren Angst vor Polizeieinsätzen“, da es immer wieder an Verständigungsmöglichkeiten mangele. Gerade für gehörlose Menschen sei die Polizei eine Institution, der sie häufig ausgeliefert seien, ohne ihre Rechte voll wahrnehmen zu können.

Wie wurde bei dem Einsatz kommuniziert?

Bislang ist unklar, wie die Kommunikation zwischen Polizei, Mutter und Kind überhaupt stattfand. Ob schriftlich, per Mimik oder mit Gesten – der Einsatzbericht gibt darüber keine Auskunft. Dass in einer derart sensiblen Lage kein Gebärdensprachdolmetscher hinzugezogen wurde, empfinden viele Beobachter als institutionelles Versagen.

Reaktionen aus Fachwelt und Gesellschaft

Kriminologen wie Martin Thüne sprechen von einem „Worst-Case-Szenario“: ein Schusswaffeneinsatz gegen ein minderjähriges, gesundheitlich beeinträchtigtes Kind. Die Situation habe exemplarisch gezeigt, wie bestehende Routinen im Polizeieinsatz versagen können, wenn sie nicht auf besondere Lagen angepasst sind. Thüne: „Das ist ein Fall, vor dem tatsächlich viele Beamte Angst haben.“

Auch in sozialen Medien häuft sich Kritik. Die emotionale Reaktion vieler Nutzer richtet sich weniger gegen einzelne Polizisten, sondern gegen die Strukturen und Ausbildungsstandards im Umgang mit vulnerablen Personen. Der Vorwurf: Die Polizei sei oft schlecht vorbereitet auf Einsätze, bei denen besondere Bedürfnisse – etwa körperliche oder sprachliche Einschränkungen – eine Rolle spielen.

Welche Rechte haben gehörlose Menschen im Kontakt mit der Polizei?

Gehörlose Personen haben in Deutschland das Recht, ihre bevorzugte Kommunikationsform – darunter auch Gebärdensprache – bei Behördenkontakten zu nutzen. Behörden sind verpflichtet, entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen. In der Praxis jedoch mangelt es häufig an Dolmetschern, besonders in Notfällen oder spontanen Einsätzen.

Statistik: Schusswaffeneinsatz durch Polizei in Deutschland

Laut Studien ist der polizeiliche Schusswaffeneinsatz in Deutschland insgesamt selten. Seit der Wiedervereinigung wurden über 300 Menschen durch Schüsse von Polizeikräften getötet. Die wissenschaftliche Aufarbeitung solcher Fälle ist jedoch lückenhaft. Es fehlt an systematischer Analyse, besonders im Hinblick auf vulnerable Gruppen wie Minderjährige oder Menschen mit Behinderungen.

Wann darf eine Bodycam überhaupt eingeschaltet werden?

Die Regelungen zum Bodycam-Einsatz variieren je nach Bundesland. In vielen Ländern – darunter auch NRW – darf eine Bodycam bei Betreten einer Wohnung nur dann aktiviert werden, wenn eine akute Gefahrenlage erkannt wird. Diese Einschätzung erfolgt durch die Einsatzkräfte vor Ort. Das führt regelmäßig zu Situationen wie in Bochum, wo zwar Bodycams getragen, aber nicht aktiviert wurden.

Konsequenzen und Forderungen

Nach dem Vorfall werden Rufe nach Reformen lauter. Fachverbände fordern:

  • Verpflichtende Aktivierung von Bodycams bei Einsätzen in geschlossenen Räumen, unabhängig von der vorherigen Einschätzung der Lage
  • Ausweitung der Ausbildung im Umgang mit gehörlosen und behinderten Personen
  • Einführung verbindlicher Standards für Kommunikation mit Gebärdensprachdolmetschern im Polizeidienst

Der Vorfall als Wendepunkt?

Der Polizeieinsatz in Bochum ist mehr als ein Einzelfall. Er beleuchtet gleich mehrere systemische Schwächen: eine lückenhafte Gesetzeslage zum Bodycam-Einsatz, fehlende Sensibilität im Umgang mit Menschen mit Behinderung und eine mangelnde Kommunikation in lebensbedrohlichen Einsatzlagen. Ob sich daraus langfristig Änderungen ergeben, bleibt abzuwarten. Doch der gesellschaftliche Druck steigt – und mit ihm die Forderung nach lückenloser Aufklärung und strukturellem Wandel.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.