
Ludwigshafen/Berlin, 25. Dezember 2025 – Über den Industriearealen liegt an diesem Wintermorgen eine kühle, klare Luft. In den Laboren wird gerechnet, geprüft, nachjustiert. Während draußen Müllfahrzeuge ihre Routen ziehen, beschäftigen sich Forscher und Ingenieure mit einer Frage, die bislang kaum jemand beantworten konnte: Was tun mit gebrauchten Windeln, die sich jedem klassischen Recycling entziehen?
Ein Pilotprojekt unter Beteiligung von BASF, dem Hygienehersteller Essity und der Technischen Universität Wien rückt genau dieses Problem in den Fokus. Es geht um nichts weniger als die stoffliche Verwertung gebrauchter Windeln und anderer absorbierender Hygieneprodukte – Abfälle, die bislang fast ausschließlich verbrannt oder deponiert wurden. Das Projekt zeigt, dass sich selbst hochkomplexe Abfallströme mithilfe moderner chemischer Verfahren in den Rohstoffkreislauf zurückführen lassen. Im Zentrum steht dabei ein Begriff, der in der Kreislaufwirtschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt: Windelrecycling.
Warum Windelrecycling bisher als nahezu unmöglich galt
Windeln sind Produkte der Hochtechnologie. Sie bestehen aus mehreren Kunststoffschichten, Zellstoff, Klebstoffen und sogenannten superabsorbierenden Polymeren, kurz SAP. Diese Stoffe binden Flüssigkeiten effizient, erschweren jedoch gleichzeitig jede Form der mechanischen Wiederverwertung. Hinzu kommen biologische Rückstände, die eine hygienische Aufbereitung zusätzlich verkomplizieren.
In der Abfallwirtschaft gelten gebrauchte Windeln deshalb seit Jahrzehnten als Problemstoff. Weder Sortieranlagen noch klassische Recyclingverfahren können die Materialien sinnvoll trennen. Der Großteil landet in Müllverbrennungsanlagen, ein Teil auf Deponien. Wertstoffe gehen dabei verloren, der enthaltene Kohlenstoff wird als CO₂ freigesetzt. Vor dem Hintergrund steigender Abfallmengen und ambitionierter Klimaziele wächst der Druck, neue Lösungen zu finden.
Genau hier setzt das BASF-Projekt an. Statt die einzelnen Bestandteile trennen zu wollen, verfolgt es einen grundlegend anderen Ansatz: die chemische Umwandlung des gesamten Abfallstroms. Damit wird das Windelrecycling nicht als Sortier-, sondern als Umwandlungsproblem verstanden.
Der technologische Kern: Gasifizierung statt Verbrennung
Herzstück des Projekts ist ein Gasifizierungsverfahren, das gemischte Abfälle bei hohen Temperaturen in ein sogenanntes Synthesegas umwandelt. Anders als bei der klassischen Verbrennung erfolgt dieser Prozess unter Sauerstoffmangel. Der Abfall wird nicht verbrannt, sondern thermochemisch zerlegt.
Das entstehende Gas besteht überwiegend aus Kohlenmonoxid und Wasserstoff. In der chemischen Industrie gelten diese Stoffe als wertvolle Ausgangsprodukte. Sie können fossile Rohstoffe ersetzen und in bestehenden Produktionsprozessen weiterverarbeitet werden. Der in den Windeln enthaltene Kohlenstoff bleibt damit im Wirtschaftskreislauf erhalten.
Für das Windelrecycling ist dieser Ansatz entscheidend. Denn die Gasifizierung macht sich die Heterogenität des Abfalls zunutze, statt an ihr zu scheitern. Kunststoffe, Zellulose und organische Rückstände werden gemeinsam in einen neuen Rohstoff überführt. Gleichzeitig sorgen die hohen Temperaturen dafür, dass Keime und organische Verunreinigungen zerstört werden.
Das Pilotprojekt: Zusammenarbeit über Branchengrenzen hinweg
Das Projekt vereint unterschiedliche Kompetenzen. BASF bringt als Chemiekonzern seine Erfahrung in der Rohstoffverarbeitung und im Betrieb integrierter Produktionsverbünde ein. Essity steuert Wissen über die Zusammensetzung und Lebenszyklen von Hygieneprodukten bei. Die Technische Universität Wien übernimmt die wissenschaftliche Begleitung und Bewertung des Verfahrens.
In einer Pilotanlage wurde geprüft, ob gebrauchte Windeln und ähnliche Hygieneprodukte ohne aufwendige Vorbehandlung gasifiziert werden können. Die Ergebnisse bestätigen die technische Machbarkeit. Das erzeugte Synthesegas weist eine Qualität auf, die mit konventionellen Rohstoffen vergleichbar ist. Damit erfüllt es die Anforderungen für eine Weiterverarbeitung in der chemischen Industrie.
Die Projektpartner betonen, dass es sich um einen Machbarkeitsnachweis handelt, nicht um eine unmittelbar einsatzbereite Großanlage. Dennoch markiert das Projekt einen wichtigen Schritt für das Windelrecycling. Erstmals liegt ein Verfahren vor, das diesen Abfallstrom vollständig in den Rohstoffkreislauf integrieren könnte.
Einordnung für Abfallwirtschaft und Industrie
Die Bedeutung des Projekts reicht über die Chemiebranche hinaus. Windeln zählen zu den mengenmäßig relevanten Abfällen im Hausmüll. Mit dem demografischen Wandel und einer alternden Gesellschaft steigt insbesondere der Anteil von Inkontinenzprodukten. Gleichzeitig wächst der politische Druck, Abfälle stofflich zu verwerten und Emissionen zu senken.
Ein funktionierendes Windelrecycling könnte Kommunen entlasten, Entsorgungskosten stabilisieren und neue Wertschöpfungsketten schaffen. Für die Industrie eröffnet sich die Möglichkeit, Kohlenstoff aus Abfällen statt aus Erdöl oder Erdgas zu gewinnen.
- Reduktion von Abfallmengen in Verbrennungsanlagen
- Rückführung von Kohlenstoff in den Produktionskreislauf
- Perspektiven für eine klimafreundlichere Chemieindustrie
Gerade in der Diskussion um Kreislaufwirtschaft gilt das Projekt daher als Beispiel dafür, wie technologische Innovationen bestehende Systemgrenzen verschieben können.
Ökologische Wirkung und industrielle Perspektive
Aus Sicht der Projektpartner liegt der ökologische Vorteil vor allem in der Kohlenstoffnutzung. Statt den in Windeln enthaltenen Kohlenstoff zu verbrennen, wird er als Rohstoff wiederverwendet. Damit kann das Windelrecycling dazu beitragen, fossile Ressourcen zu schonen und Emissionen zu reduzieren.
BASF verweist auf die eigenen Produktionsverbünde, in denen unterschiedliche Stoffströme miteinander verknüpft sind. Das im Gasifizierungsprozess erzeugte Synthesegas könnte dort in bestehende Prozesse eingespeist werden. Für den Konzern ist das Projekt Teil einer übergeordneten Strategie, alternative Rohstoffquellen zu erschließen.
Essity sieht in dem Ansatz einen Baustein auf dem Weg zu nachhaltigeren Hygieneprodukten. Zwar liegt der Fokus des Projekts auf der Verwertung nach der Nutzung, doch langfristig könnten solche Verfahren auch Einfluss auf Produktdesign und Materialauswahl haben.
Grenzen und offene Fragen
Trotz der positiven Ergebnisse bleiben Herausforderungen. Der Übergang vom Pilotmaßstab zur industriellen Anwendung ist komplex. Gasifizierungsanlagen sind investitionsintensiv, ihr Betrieb erfordert stabile Abfallströme und klare regulatorische Rahmenbedingungen.
Zudem stellt sich die Frage, wie Windelabfälle künftig gesammelt und bereitgestellt werden könnten. In vielen Ländern landen sie unsortiert im Hausmüll. Ein effizientes Windelrecycling setzt jedoch voraus, dass ausreichende Mengen verfügbar sind und logistisch gebündelt werden können.
Auch gesellschaftliche Akzeptanz spielt eine Rolle. Die Vorstellung, gebrauchte Hygieneprodukte industriell zu verwerten, ist erklärungsbedürftig. Transparenz über Prozesse, Emissionen und Umweltwirkungen wird entscheidend sein.
Ein Signal für die Kreislaufwirtschaft
Unabhängig von diesen offenen Punkten zeigt das Projekt, dass sich selbst vermeintlich nicht recycelbare Abfälle neu denken lassen. Das Windelrecycling steht exemplarisch für einen Paradigmenwechsel: Weg von der reinen Entsorgung, hin zur Rohstoffrückgewinnung.
Die Ergebnisse aus Ludwigshafen und Wien fügen sich in eine breitere Bewegung ein, in der chemisches Recycling und Gasifizierung als Ergänzung zu mechanischen Verfahren diskutiert werden. Für Abfallströme, die bislang als Sackgasse galten, eröffnen sich damit neue Perspektiven.
Zwischen Vision und industrieller Realität
Das BASF-Projekt liefert keinen schnellen Durchbruch, wohl aber einen belastbaren Beleg dafür, dass Windelrecycling technisch möglich ist. Ob daraus in den kommenden Jahren großtechnische Anlagen entstehen, hängt von politischen Rahmenbedingungen, wirtschaftlichen Anreizen und weiteren technologischen Fortschritten ab.
Sicher ist jedoch: Die Frage, was mit gebrauchten Windeln geschieht, wird angesichts wachsender Abfallmengen nicht verschwinden. Das Pilotprojekt zeigt einen Weg auf, wie Chemie, Wissenschaft und Industrie gemeinsam Antworten entwickeln können – sachlich, technologiegetrieben und ohne Illusionen. In einer Zeit, in der Kreislaufwirtschaft oft beschworen, aber selten umgesetzt wird, ist das ein bemerkenswert nüchterner Fortschritt.