
Inmitten endloser Steppe, weit ab von digitalen Hightech-Metropolen, schreibt ein Land an seiner eigenen Bildungsoffensive. Die Mongolei, oft unterschätzt im globalen Vergleich, setzt auf digitale Bibliotheken und neue Wege der Wissensvermittlung – und denkt das Konzept Bibliothek neu.
Digitale Bibliotheken in der Mongolei: Eine stille Bildungsrevolution
Die Vorstellung, eine Bibliothek müsse aus meterlangen Bücherregalen bestehen, wird in der Mongolei zunehmend überdacht. Während in vielen Ländern noch über Digitalisierung diskutiert wird, ist sie in Teilen der mongolischen Bildungslandschaft längst gelebte Realität. Bibliotheken ohne physische Bücher, die Wissen über Tablets, Audiogeräte und mobile Dienste vermitteln, sind keine Vision, sondern Praxis.
Was auf den ersten Blick wie eine Notlösung klingt, ist in Wahrheit eine gezielte Antwort auf infrastrukturelle Herausforderungen: große Entfernungen, geringe Bevölkerungsdichte, wenig ausgebautes Bibliothekswesen und ein hoher Anteil nomadisch lebender Menschen. Digitale Bibliotheken ermöglichen es, auch diese Zielgruppen zu erreichen – auf kreative und teils revolutionäre Weise.
Warum mobile Bibliotheken für Nomaden so wichtig sind
Die mongolische Bevölkerung ist zum Teil bis heute nomadisch unterwegs. Traditionelle stationäre Bibliotheken sind für diese Menschen kaum erreichbar. Deshalb wurde unter anderem das Projekt „Messenger for the People“ gestartet: Mobile Bibliotheksdienste, die Bücher, digitale Lesegeräte oder Audiomedien direkt zu den Menschen bringen – auch in entlegenste Jurten und Nomadendörfer. Solche Angebote machen Bildung und Kultur dort zugänglich, wo klassische Bildungseinrichtungen kaum hinreichen.
Die Rolle der Ulaanbaatar Public Library
Eine der treibenden Kräfte dieser Bewegung ist die Ulaanbaatar Public Library. Bereits seit 2010 bietet sie mit internationalen Partnern den sogenannten DAISY-Talking-Book-Service an – ein digitales Audiobuchsystem, das sehbehinderten Menschen Zugang zu Literatur bietet. Inzwischen nutzen durchschnittlich drei sehbehinderte Personen pro Tag dieses Angebot in jeder Provinzbibliothek des Landes.
„Früher war Lesen für mich nicht möglich. Heute habe ich Zugang zu hunderten Büchern, die ich hören kann“, berichtet eine Nutzerin in einem Interview aus Darkhan.
Was digitale Bibliotheken leisten – und wo sie an Grenzen stoßen
Die digitale Bibliotheksbewegung geht jedoch über Sehbehindertenangebote hinaus. Verschiedene Programme wie „Let’s Read!“ oder die „E-Textbook Library“ der National University bringen Kinderbücher, Fachliteratur und Lernmedien in digitaler Form in Schulen, Bibliotheken und Universitäten – besonders in Regionen mit wenig Infrastruktur.
Wie viele Mongolen nutzen öffentliche Bibliotheken aktiv?
Laut einer aktuellen Studie haben etwa 91 % der mongolischen Bevölkerung niemals eine Bibliothek betreten. Gleichzeitig sind nur rund 8,9 % als Nutzer registriert. Digitale Lösungen können hier eine Lücke füllen – insbesondere in Verbindung mit mobilen Geräten oder WLAN-Hotspots.
WLAN-Lücken und kreative Lernorte
Ein Problem bleibt jedoch die digitale Infrastruktur. Viele ländliche Bibliotheken bieten kein stabiles WLAN. In sozialen Medien berichten Nutzer regelmäßig davon, dass sie zum Lernen in Einkaufszentren ausweichen müssen, weil es dort kostenlosen Internetzugang gibt. Öffentliche WLAN-Zonen in Mongolei sind rar – und wenn vorhanden, nicht immer zuverlässig.
Digitale Leseförderung an Schulen und Universitäten
Die Verlagerung von Lesekompetenzförderung ins Digitale zeigt auch an Schulen erste Erfolge. Im Rahmen des von der Weltbank unterstützten READ-Projekts wurden in über 380 Schulen Klassenzimmerbibliotheken aufgebaut. Parallel dazu liefert die „E-Textbook Library“ digitale Inhalte für Mathematik und Naturwissenschaften – kostenlos und auch für abgelegene Regionen verfügbar.
Gibt es hochschulbezogene digitale Lehrbuchbibliotheken in der Mongolei?
Ja. Die National University of Mongolia etablierte 2023 eine digitale Lehrbuchbibliothek für Studierende. Sie bietet freien Zugriff auf digitale Fachbücher und soll schrittweise auf weitere Fächer und Hochschulen ausgeweitet werden. Besonders Studierende in Provinzen profitieren davon, da sie bislang kaum Zugang zu Lehrmaterialien hatten.
Internetnutzung im ländlichen Raum: Zwischen Fortschritt und Frustration
Wie hat sich die Internetnutzung in ländlichen Gebieten der Mongolei entwickelt?
Zwischen 2005 und 2013 wurden sämtliche der 360 sogenannten „Soum-Zentren“ – lokale Verwaltungseinheiten – ans Internet angeschlossen. Die Zahl der Internetnutzer auf dem Land stieg von 300 im Jahr 2006 auf etwa 12.000 im Jahr 2013. Bis 2024 erreichte die landesweite Internetpenetration 83 %, jedoch bleibt die Qualität des Zugangs in abgelegenen Gebieten oft mangelhaft.
Ein Nutzer auf Reddit beschreibt es so: „Das einzige stabile WLAN in meinem Dorf gibt’s im Einkaufszentrum. Bibliotheken? Da gibt’s manchmal nicht mal Strom.“
Digital Literacy – der neue Zugangsschlüssel zum Wissen
Digitale Bildung bedeutet nicht nur Zugang zu Geräten oder Plattformen, sondern auch die Fähigkeit, diese sinnvoll zu nutzen. Studien zeigen, dass nur etwa die Hälfte der Studierenden sich als ausreichend digital kompetent einschätzt. Ein weiterer Hinderungsgrund: Viele Bildungsinhalte sind nur auf Englisch verfügbar – und Englischkenntnisse sind in ländlichen Gebieten selten.
Wie kann man digitales Lernen für alle ermöglichen?
NGOs wie „People in Need“ fordern mehr gezielte Schulungen für digitale Grundkompetenzen. In Workshops wird nicht nur der Umgang mit Technik geübt, sondern auch der sichere Umgang mit Informationen und Tools wie E-Readern oder Audio-Bibliotheken.
Der staatliche Rahmen: e-Mongolia und Vision 2050
Die Regierung hat mit der Plattform „e-Mongolia“ über 1.200 digitale Dienste eingeführt – von der Passbeantragung bis zur Sozialhilfe. Bildung ist ein fester Bestandteil dieser Strategie. Mit der langfristigen Entwicklungsvorgabe „Vision 2050“ will das Land digitale Bildung, Coding und KI-Kompetenzen landesweit verankern. Bereits heute erhalten Kinder in ländlichen Regionen Chromebooks – ein Teil einer Google-Partnerschaft zum Ausbau digitaler Grundbildung.
Open Access und digitale Piraterie – eine Schattenseite?
Warum gibt es in der Mongolei kaum frei zugängliche Online-Texte?
Auf Reddit und in Foren klagen viele Nutzer über den Mangel an offenen, legalen mongolischen Textquellen. Das führt in Teilen zur Nutzung illegaler Quellen, etwa beim Herunterladen von Schulbüchern oder Literatur. Der Ruf nach mongolischen Alternativen zu „Project Gutenberg“ wird lauter. Eine Open-Source-Initiative für mongolischsprachige Texte könnte gleich zwei Probleme lösen: das Angebot legaler Inhalte erhöhen und Piraterie reduzieren.
Wie sieht die Zukunft der Bibliothek in der Mongolei aus?
Die Mongolei denkt Bibliothek nicht als Ort, sondern als Netzwerk. Mobile Geräte, digitale Plattformen, E-Textbooks und Audiolösungen sind mehr als eine Notlösung – sie sind ein neuer Standard. Digitale Teilhabe ist dabei der Schlüsselbegriff: Bildung für alle ist nur möglich, wenn Infrastruktur, Kompetenzen und Inhalte Hand in Hand gehen.
Gleichzeitig bleibt der Wunsch nach klassischen Lernorten bestehen. Öffentliche Bibliotheken wie die in Ulaanbaatar bleiben wichtige Rückzugsorte – nicht nur für Bücher, sondern für Ruhe, Lernen und menschliche Begegnung.
Ein Land auf dem Weg zur Wissensgesellschaft
Die digitale Bibliothek in der Mongolei ist mehr als ein technisches Projekt – sie ist eine gesellschaftliche Vision. In einem Land, in dem Geografie und Tradition bislang Bildung limitierten, entsteht ein Modell, das viele Entwicklungsländer inspiriert. Der Schlüssel liegt im Gleichgewicht: zwischen digitalem Zugang und sozialer Integration, zwischen Infrastruktur und Inhalt, zwischen Vision und Alltag. Und genau dort, inmitten dieser Widersprüche, beginnt das neue Kapitel des Lernens.