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Rechtsgrundlage: Deshalb darf Italien aktuell deutsches Rettungsschiff Sea-Eye 5 festsetzen

In Aktuelles
Juni 19, 2025
Sea-Eye 5

19. Juni 2025, 10:00 Uhr

Ein neuer Konflikt um die zivile Seenotrettung im Mittelmeer

Die Festsetzung des deutschen Rettungsschiffs „Sea-Eye 5“ im sizilianischen Hafen Pozzallo hat erneut eine hitzige Debatte über Migrationspolitik, internationales Seerecht und humanitäre Verantwortung entfacht. Während die italienische Regierung von der Notwendigkeit nationaler Sicherheitsmaßnahmen spricht, kritisieren NGOs, Juristen und Menschenrechtsorganisationen eine gezielte Kriminalisierung ziviler Seenotrettung. Was genau steckt hinter dem Vorfall? Und welche Folgen könnte dieser Fall für zukünftige Rettungseinsätze im Mittelmeer haben?

Rettungseinsatz und Festsetzung: Was geschah vor der Küste Libyens?

Am 14. Juni 2025 rettete die Crew der Sea-Eye 5 insgesamt 65 Menschen aus Seenot, rund 50 Seemeilen vor der libyschen Küste. Das Schiff, betrieben von der deutschen NGO Sea-Eye, brachte die Geretteten in den zugewiesenen Hafen von Pozzallo auf Sizilien. Nach Ankunft erfolgte jedoch die überraschende Festsetzung des Schiffs durch italienische Behörden.

Der Vorwurf: Die Besatzung habe gegen Anweisungen der italienischen Seenotleitstelle verstoßen. Genannt werden u. a. Verstöße gegen Meldevorschriften und die Nichtbeachtung von Koordinationspflichten. Sea-Eye wies die Vorwürfe umgehend als konstruiert zurück und spricht von einem politischen Motiv hinter der Maßnahme.

Rechtsgrundlage: Das Piantedosi-Dekret

Die rechtliche Grundlage für die Festsetzung bildet das sogenannte Piantedosi-Dekret, benannt nach Italiens Innenminister Matteo Piantedosi. Das Dekret trat 2023 in Kraft und regelt streng die Bedingungen, unter denen zivile Rettungsschiffe agieren dürfen. Es verpflichtet die Schiffe dazu:

  • Rettungseinsätze sofort zu melden,
  • den nächstgelegenen Hafen anzulaufen, sobald dies von italienischen Behörden angeordnet wird,
  • nicht mehrere Rettungen hintereinander durchzuführen, ohne einen Hafen anzulaufen.

Bei Zuwiderhandlung drohen Verwaltungsstrafen, hohe Geldbußen und die Festsetzung des Schiffes. Sea-Eye sieht darin eine gezielte Behinderung lebensrettender Maßnahmen. Das Schiff wurde für 20 Tage festgesetzt, eine empfindliche Unterbrechung ihrer humanitären Mission.

Internationale Perspektive: Völkerrecht gegen nationale Interessen

Juristen und Experten für Seerecht verweisen darauf, dass das Piantedosi-Dekret in Widerspruch zu internationalen Konventionen steht, insbesondere zur UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) und dem SAR-Übereinkommen (Search and Rescue). Diese verpflichten Kapitäne zur Hilfeleistung bei Seenot – unabhängig von nationalstaatlichen Vorschriften.

Ein weiterer zentraler Aspekt: Die Sea-Eye 5 fährt unter deutscher Flagge. Damit liegt die Hauptverantwortung für die Rechtmäßigkeit ihres Handelns eigentlich beim Flaggenstaat – in diesem Fall Deutschland – nicht bei Italien. Die Festsetzung durch Italien wird von Sea-Eye als Eingriff in die Souveränität Deutschlands und als Missachtung internationalen Rechts gesehen.

Statistische Einordnung: Rettung unter Druck

Die Festsetzung der Sea-Eye 5 ist kein Einzelfall. Seit Einführung des Piantedosi-Dekrets im Jahr 2023 wurden insgesamt neun zivile Rettungsschiffe mindestens 19-mal festgesetzt. Besonders betroffen waren Organisationen wie SOS Humanity, Sea-Watch, ResQship oder Proactiva Open Arms.

Überblick ziviler Festsetzungen seit 2023

NGOAnzahl FestsetzungenBetroffene Schiffe
Sea-Eye3Sea-Eye 4, Sea-Eye 5
SOS Humanity4Humanity 1
ResQship2Nadir
Proactiva Open Arms2Open Arms Uno

Seit 2014 starben laut EU-Daten mindestens 25.716 Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer. NGOs argumentieren, dass jede Festsetzung die Überlebenschancen für Menschen in Seenot drastisch senkt – durch Verzögerung, Unterbrechung von Rettungsmissionen und abschreckende Wirkung auf andere Akteure.

Gegenposition: Sicherheitsinteressen und Migrationskontrolle

Die italienische Regierung verteidigt ihr Vorgehen. Das Piantedosi-Dekret sei notwendig, um geordnete Seenotrettung mit nationaler Sicherheit und Migrationskontrolle zu verbinden. Premierministerin Giorgia Meloni betont regelmäßig, dass Italien überfordert sei mit den steigenden Ankunftszahlen von Migrantinnen und Migranten – besonders über die Mittelmeerroute aus Libyen und Tunesien.

Rom sieht in den häufigen NGO-Einsätzen eine „Pull-Faktor-Wirkung“, die Schleppernetzwerke in Nordafrika ausnutzen könnten. Die Pflicht, nach jedem Einsatz einen zugewiesenen Hafen anzusteuern, soll verhindern, dass NGOs als eine Art „Fährdienst“ wahrgenommen werden.

NGO-Stimmen: „Kriminalisierung der Solidarität“

Zahlreiche NGOs und Menschenrechtsorganisationen verurteilen die italienische Praxis als gezielten Angriff auf humanitäre Hilfe. Begriffe wie „Kriminalisierung der Solidarität“ oder „Verwaltungsverhinderung durch Regulierung“ machen in Pressemitteilungen und Kommentaren die Runde.

Ein Sprecher von Human Rights Watch erklärte:

„Die italienischen Behörden setzen Regeln ein, um humanitäre Hilfe gezielt zu unterdrücken. Damit werden Menschenleben gefährdet – aus politischen Gründen.“

Auch Sea-Eye kündigte rechtliche Schritte gegen die Festsetzung an. Die Organisation wird dabei durch internationale Rechtsnetzwerke unterstützt, die sich auf Völkerrecht und humanitäres Recht spezialisiert haben.

Langfristige Strategie: Abschottung durch Verwaltung

Beobachter sehen im Verhalten der italienischen Regierung eine längerfristige Strategie. Es gehe nicht nur um einzelne Schiffe oder Einsätze, sondern um die dauerhafte Einschränkung zivilgesellschaftlicher Rettung. Neben dem Piantedosi-Dekret kommen auch bilaterale Migrationsdeals mit Libyen und Tunesien zum Einsatz – etwa Rückführungsabkommen, technische Unterstützung der libyschen Küstenwache oder die Einrichtung von Beobachtungsposten an EU-Außengrenzen.

Besonders kritisiert wird die Zuweisung weit entfernter Häfen – z. B. in Norditalien – die teils eine Woche Fahrtzeit bedeuten und dadurch Kapazitäten für neue Einsätze massiv einschränken. Laut NGOs sei dies ein klar kalkuliertes Mittel zur Reduzierung der operativen Wirksamkeit.

Der politische Kontext: EU uneins in der Asylfrage

Die Festsetzung der Sea-Eye 5 ist nur ein Symptom eines größeren Problems: der Uneinigkeit der Europäischen Union in der Asyl- und Migrationspolitik. Während Italien, Griechenland und Malta auf mehr Unterstützung und eine faire Verteilung pochen, zeigen sich Länder wie Ungarn, Polen und teils Deutschland zurückhaltend. Das Resultat: Ein Flickenteppich aus nationalen Alleingängen, bilateralen Abkommen und lokalpolitischen Entscheidungen.

Die Diskussion um eine einheitliche europäische Seenotrettung ist seit Jahren ins Stocken geraten. Damit bleibt der Schutz von Menschenleben auf See in weiten Teilen zivilgesellschaftlichen Organisationen überlassen – und diese geraten zunehmend unter Druck.

Fazit: Symbolischer Fall mit weitreichender Bedeutung

Die Festsetzung der Sea-Eye 5 ist mehr als eine bürokratische Maßnahme. Sie steht exemplarisch für den tiefen Konflikt zwischen humanitärem Imperativ und politischer Migrationskontrolle. Während Italien seine Gesetze durchsetzt und seine Souveränität schützt, kämpfen NGOs für das Recht auf Rettung – und für die Menschen, die in seeuntüchtigen Booten ihr Leben riskieren.

Der Fall dürfte juristisch weitergeführt werden und auch auf EU-Ebene Diskussionen anstoßen. Ob er zu einer politischen Kehrtwende oder weiteren Restriktionen führt, bleibt offen. Klar ist: Die See-Eye 5 ist kein Einzelfall – sondern ein Symbol eines größeren, ungelösten Dilemmas an Europas Grenzen.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.