Trotz über einer Million Rückkehrer aus dem Ausland Warum kehren Syrer kaum aus Deutschland zurück nach in ihre Heimat?

In Politik
November 04, 2025

Berlin, 4. November 2025 – Es ist ein grauer Herbstmorgen in Berlin-Neukölln. Auf den Straßen klingen arabische Stimmen, Kinder laufen mit Schulranzen durch den Nieselregen, an einer Bäckerei riecht es nach Fladenbrot und Kaffee. Viele der Menschen, die hier leben, kamen einst aus Syrien – geflohen vor Krieg, Verfolgung und Zerstörung. Während inzwischen mehr als eine Million Syrer in ihre Heimat zurückgekehrt sind, bleibt die Rückkehr aus Deutschland die große Ausnahme.

Die Zahl der Rückkehrer wächst – aber nicht aus Deutschland

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) sind seit dem Ende des syrischen Bürgerkriegs über eine Million Syrer in ihre Heimat zurückgekehrt. Die meisten stammen aus Nachbarländern wie der Türkei, dem Libanon oder Jordanien. Doch aus Deutschland, wo rund eine Million Syrer leben, sind es nach Schätzungen des Bundesinnenministeriums nur etwa 4.000 Menschen, die seit dem Machtverlust des Assad-Regimes den Weg zurück angetreten haben. Eine Diskrepanz, die Fragen aufwirft – und politische Debatten befeuert.

Die Organisation New Arab berichtet, dass rund 995 dieser Rückkehrer staatliche Unterstützung über die Programme REAG und GARP erhielten, die Reisekosten und eine einmalige Rückkehrhilfe beinhalten. Weitere 193 Syrer nutzten landesweite Programme, während etwa 2.700 Menschen ohne jede Hilfe zurückgingen. Doch selbst diese Zahlen sind mit Vorsicht zu betrachten: Viele Fälle lassen sich laut Behörden nicht eindeutig verifizieren, da unklar bleibt, ob die Personen tatsächlich in Syrien ankamen oder lediglich das Asylsystem verließen.

Warum Syrer in Deutschland bleiben – Integration statt Rückkehr

Ein zentraler Grund für die geringe Rückkehrquote liegt in der Integration der Syrer in Deutschland. Laut einer Studie der Robert Bosch Stiftung hat sich ein Großteil der Geflüchteten seit 2015 erfolgreich eingelebt – mit Arbeit, Wohnung und sozialem Umfeld. Viele haben Familien gegründet oder Kinder, die hier aufwachsen. „Deutschland ist für viele zur zweiten Heimat geworden“, sagt ein Sprecher der Stiftung.

Auch wirtschaftliche Aspekte spielen eine Rolle. Wie Reuters berichtet, sind syrische Fachkräfte vor allem im Gesundheitswesen, im Handwerk und in der Gastronomie gefragt. „Ihr Arbeitskräftebedarf wird geschätzt und gebraucht“, heißt es in dem Bericht. Die hohe Erwerbsquote syrischer Zuwanderer – nur rund neun Prozentpunkte unter dem deutschen Durchschnitt – verdeutlicht, dass viele längst Teil des Arbeitsmarktes sind. Diese wirtschaftliche Sicherheit reduziert die Motivation, in ein Land zurückzukehren, das noch immer von Zerstörung, Inflation und Arbeitslosigkeit geprägt ist.

„Ich habe in Deutschland eine Zukunft gefunden“

In Foren und sozialen Netzwerken berichten syrische Nutzer häufig von ähnlichen Erfahrungen. Auf Reddit schreibt ein Nutzer, der seit 2016 in Hamburg lebt: „Ich würde gern meine Eltern besuchen, aber zurückkehren? Nein. Mein Leben, meine Freunde, meine Arbeit – alles ist hier.“ Diese Stimmen spiegeln ein realistisches Bild wider: Die emotionale und soziale Bindung an Deutschland ist oft stärker als die Sehnsucht nach der Heimat, die viele kaum wiedererkennen würden.

Rechtlicher Schutz und politische Realität

Die rechtlichen Rahmenbedingungen erschweren eine Rückkehr zusätzlich. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) berichtet, dass im Jahr 2024 rund 79.000 Asylanträge von Syrern gestellt wurden. Davon erhielten über 10.000 Personen den Flüchtlingsstatus nach § 3 AsylG, etwa 70.000 subsidiären Schutz. Nur in wenigen hundert Fällen wurde ein Abschiebungsverbot ausgesprochen. In der Praxis bedeutet das: Der überwiegende Teil der Syrer bleibt rechtlich geschützt – und eine Abschiebung ist nahezu ausgeschlossen.

Das Migration Policy Institute ergänzt, dass viele Syrer in Europa inzwischen Daueraufenthaltsrechte oder sogar Staatsbürgerschaft besitzen. In Deutschland wurden allein im vergangenen Jahr über 83.000 Syrer eingebürgert. Wer diesen Status erreicht, hat kein Interesse mehr an einer Rückkehr – zumal die rechtlichen Vorteile, die soziale Sicherheit und die Perspektive für die Kinder hier deutlich größer sind.

„Freiwillige Rückkehr“ bleibt Ausnahme

Das BAMF weist darauf hin, dass zwar Programme für eine freiwillige Rückkehr existieren, doch nur wenige Syrer diese nutzen. Im Jahr 2023 nahmen insgesamt etwa 10.000 Menschen aus allen Herkunftsländern daran teil – Syrer machten dabei nur einen kleinen Teil aus. Die Gründe sind vielfältig: Unsicherheit über die Lage in Syrien, Angst vor Verfolgung oder fehlende wirtschaftliche Perspektiven im Heimatland. Viele potenzielle Rückkehrer gaben an, sie würden nur zurückkehren, „wenn Frieden und Arbeit garantiert“ seien.

Das Sicherheitsdilemma in Syrien

Auch wenn das Assad-Regime militärisch wieder die Kontrolle über weite Landesteile hat, gilt Syrien laut den Vereinten Nationen weiterhin als unsicher. Humanitäre Hilfe, Wiederaufbau und Versorgung mit Wasser, Strom und medizinischer Infrastruktur bleiben lückenhaft. Der UNHCR stuft die aktuelle Rückkehrwelle daher als „fragil und riskant“ ein. Besonders Binnenvertriebene und Rückkehrer in zerstörte Städte wie Aleppo oder Homs seien weiter gefährdet. „Ohne internationale Hilfe droht die Rückkehr vieler Familien zu scheitern“, warnt das UNHCR.

Zwischen Hoffnung und Realität

In Syrien selbst sehen viele Heimkehrer ihre Entscheidung zwiespältig. Lokale Organisationen berichten von Rückkehrern, die nach kurzer Zeit erneut ausreisen wollen – wegen fehlender Jobs oder repressiver Sicherheitskontrollen. „Es gibt kaum Strom, kaum Lebensmittel und keine Schulen, die funktionieren“, zitiert die Organisation eine Rückkehrerin aus Damaskus. Diese Berichte verbreiten sich auch in syrischen Online-Communities in Deutschland – und beeinflussen dort die Stimmung. Wer solche Nachrichten liest, verliert den Mut zur Rückkehr.

Die politische Debatte in Deutschland

In Deutschland sorgt die geringe Zahl der Rückkehrer immer wieder für Diskussionen. Einige Politiker fordern strengere Rückführungen oder bilaterale Abkommen mit Syrien. Doch solche Forderungen stoßen auf rechtliche und moralische Grenzen. Menschenrechtler warnen, dass Rückführungen nach Syrien gegen das Völkerrecht verstoßen könnten, solange das Land als unsicher gilt. Das bestätigt auch das Auswärtige Amt, das in seinen Lageberichten weiterhin vor Abschiebungen warnt.

Gleichzeitig wächst der Druck auf Kommunen, die steigende Zahl von Asylbewerbern unterzubringen. Obwohl Syrer längst nicht mehr die Mehrheit der Neuankömmlinge stellen, bleibt ihr Schutzstatus ein politischer Prüfstein. Die Diskussion, ob und wann Syrien als „sicheres Herkunftsland“ gelten kann, dürfte in den kommenden Jahren wieder an Fahrt gewinnen – insbesondere vor dem Hintergrund der europäischen Migrationspolitik.

Gesellschaftliche Wahrnehmung: Integration als Dauerlösung

Während die Politik diskutiert, hat sich in der Gesellschaft längst eine Realität etabliert: Syrer in Deutschland sind angekommen. Kinder sprechen akzentfrei Deutsch, junge Menschen beginnen Ausbildungen oder studieren. Laut einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) liegt die Beschäftigungsquote syrischer Männer bei über 60 Prozent. Auch Frauen holen auf, wenn auch langsamer. Integration, so zeigt sich, funktioniert – trotz anfänglicher Skepsis vieler Beobachter.

Ein neuer Lebensmittelpunkt

Viele Syrer empfinden ihr Leben in Deutschland nicht mehr als „vorübergehend“. Sie gründen Unternehmen, engagieren sich in Vereinen oder nehmen an kommunalpolitischen Prozessen teil. Damit verschiebt sich der Blick auf die eigene Zukunft: Die Frage ist längst nicht mehr, ob man bleibt, sondern wie man bleibt. Rückkehr nach Syrien ist für die meisten keine Option – zumindest nicht unter den aktuellen Bedingungen.

Emotionen, Bindungen, Zukunft

Die psychologische Dimension darf in dieser Debatte nicht unterschätzt werden. Wer über Jahre in einem anderen Land lebt, Sprache und Kultur verinnerlicht und Familie gründet, baut emotionale Brücken. Eine Rückkehr würde bedeuten, all das zurückzulassen – für ein Land, das sich verändert hat und vielen kaum noch vertraut ist. „Ich habe in Deutschland eine Zukunft gefunden“, schreibt eine Syrerin in einem Online-Kommentar. „Syrien ist meine Heimat, aber nicht mehr mein Zuhause.“

Ein Land zwischen Aufnahme und Abschied

Deutschland bleibt damit ein Sonderfall in der globalen Rückkehrbilanz. Während Nachbarstaaten wie die Türkei Rückkehrbewegungen registrieren, ist die Zahl der Syrer, die Deutschland verlassen, verschwindend gering. Hinter dieser Statistik steht jedoch mehr als nur Politik oder Recht – sie spiegelt individuelle Schicksale, Hoffnungen und Ängste wider. Die Geschichte der syrischen Geflüchteten in Deutschland ist längst keine Episode mehr. Sie ist Teil der neuen deutschen Realität – und sie wird das Land noch lange begleiten.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.