Grenzen im Gesundheitswesen Bundesverfassungsgericht kippt Triage-Regeln

In Politik
November 04, 2025

Karlsruhe, 4. November 2025 – Leise dringt der Regen gegen die Glasfassade des Bundesverfassungsgerichts, als die Richter ihre Entscheidung verkünden. Es ist ein Urteil, das Wellen schlägt – in den Krankenhäusern, in den Ministerien, in den Köpfen der Menschen. Die Triage-Regelungen des Infektionsschutzgesetzes, einst als Schutzinstrument gedacht, sind mit dem Grundgesetz unvereinbar. Damit endet ein Kapitel, das während der Corona-Pandemie begann und nun ein neues rechtliches und ethisches Kapitel aufschlägt.

Bundesverfassungsgericht erklärt Triage-Regelungen für nichtig

Das Bundesverfassungsgericht hat die im Jahr 2022 eingeführten Triage-Regelungen des § 5c Infektionsschutzgesetzes (IfSG) für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Mit dem Urteil vom 4. November 2025 folgten die Richter mehreren Verfassungsbeschwerden von Ärztinnen und Ärzten, die sich gegen die gesetzlichen Vorgaben gewandt hatten. Sie sahen sich in ihrer beruflichen Freiheit eingeschränkt und warfen dem Gesetzgeber eine Überschreitung seiner Kompetenzen vor.

Der entscheidende Punkt: Dem Bund fehle die Gesetzgebungskompetenz für diese Regelung. Die Richter urteilten, dass die Priorisierung medizinischer Behandlungen bei knappen Ressourcen keine Maßnahme zur „Bekämpfung übertragbarer Krankheiten“ im Sinne des Grundgesetzes sei – und damit außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Bundes liege. Zuständig seien vielmehr die Länder.

Hinzu kommt ein weiterer verfassungsrechtlicher Aspekt: Das Gericht erkannte in den Vorschriften einen Eingriff in die Berufsausübungs- und Therapiefreiheit nach Artikel 12 Grundgesetz. Die Regelung schrieb Ärzten verbindlich vor, nach welchen Kriterien sie im Falle knapper Intensivbetten entscheiden dürfen – und nahm ihnen damit einen wesentlichen Teil ihres fachlichen Ermessens.

Wie die Triage-Regelung ursprünglich gedacht war

Die Triage-Regelung wurde 2022 als Reaktion auf ein früheres Urteil des Bundesverfassungsgerichts geschaffen. Damals hatten Menschen mit Behinderung gefordert, der Gesetzgeber müsse sicherstellen, dass sie in einer Pandemie nicht benachteiligt werden, wenn Intensivbetten knapp werden. § 5c IfSG legte daher fest, dass bei Engpässen ausschließlich die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“ als Entscheidungskriterium gelten dürfe. Merkmale wie Alter, Behinderung, Gebrechlichkeit, Geschlecht oder Herkunft durften ausdrücklich nicht berücksichtigt werden.

Das Gesetz enthielt außerdem ein Verbot der sogenannten Ex-Post-Triage – also des Abbruchs einer laufenden Behandlung zugunsten eines neuen Patienten mit besseren Überlebenschancen. Genau dieses Verbot war einer der Hauptkritikpunkte der Ärzteschaft. Viele empfanden es als unpraktikabel und ethisch widersprüchlich: Wenn alle Betten belegt sind, kann keine neue Behandlung beginnen, ohne eine andere zu beenden.

Ärztinnen und Ärzte zwischen Ethik und Gesetz

Die Beschwerdeführenden betonten, dass sie sich durch das Gesetz in einer moralisch und rechtlich unhaltbaren Situation befanden. Sie müssten Entscheidungen treffen, die über Leben und Tod bestimmen – gleichzeitig drohten ihnen rechtliche Konsequenzen, wenn sie gegen das Gesetz verstießen. Ein Mediziner formulierte es in einem Leserkommentar so: „Es fühlt sich an wie Lotto – wer zuerst kommt, wird behandelt, selbst wenn der nächste Patient bessere Überlebenschancen hätte.“

Diese Unsicherheit wird auch durch eine deutschlandweite Umfrage unter Intensivmedizinerinnen und -medizinern bestätigt. Ein Großteil der Befragten gab an, dass sie sich weder rechtlich noch ethisch ausreichend abgesichert fühlten, wenn sie im Ernstfall Priorisierungsentscheidungen treffen müssten. Viele wünschten sich klarere Leitlinien, mehr Schulung und eine stärkere gesellschaftliche Debatte darüber, was im Notfall gelten soll.

Föderale Folgen: Verantwortung wandert zu den Ländern

Mit der Entscheidung aus Karlsruhe liegt die Kompetenz nun bei den Bundesländern. Künftig dürfen sie selbst festlegen, wie Triage-Situationen geregelt werden sollen. Gesundheitsministerin Nina Warken kündigte an, gemeinsam mit den Ländern „rechtssichere und praktikable“ Lösungen zu entwickeln. Doch Fachleute warnen bereits vor einem Flickenteppich: Wenn jedes Bundesland eigene Vorgaben entwickelt, könnten Patientinnen und Patienten je nach Wohnort unterschiedlich behandelt werden.

Aus Sicht vieler Experten ist das Urteil daher zwar juristisch nachvollziehbar, in der Praxis aber problematisch. Der Marburger Bund und die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) mahnen an, dass die rechtliche Klarheit über Zuständigkeiten keine Lösung der ethischen Kernfragen sei.

Zwischen Statistik, Ethik und Realität

Medizinische Studien zeigen, dass bei der Bewertung der „Überlebenswahrscheinlichkeit“ komplexe Modelle wie SAPS II oder SOFA-Scores eingesetzt werden könnten, um objektivere Entscheidungen zu treffen. Forscher wie Axel R. Heller warnten jedoch in Fachdebatten und auf Plattformen wie LinkedIn, dass algorithmische Modelle neue Risiken bergen: „Wir schaffen mit Scores eine Scheinsicherheit – doch am Ende bleibt jede Zahl eine menschliche Entscheidung.“

Behindertenrechtsorganisationen sehen in der Entscheidung des Verfassungsgerichts hingegen einen Schritt zur Wahrung der Gleichberechtigung. Schon in frühen Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf hatten sie darauf hingewiesen, dass Begriffe wie „Erfolgsaussicht“ oder „Überlebenschance“ diskriminierende Effekte haben könnten, weil sie Menschen mit Vorerkrankungen oder Behinderungen als „weniger erfolgversprechend“ markieren.

Damit steht fest: Die Debatte um die richtige Form der Triage ist längst keine reine Juristenfrage mehr. Sie betrifft ethische Grundsätze, medizinische Praxis und gesellschaftliche Werte gleichermaßen. Die Entscheidung aus Karlsruhe zwingt das Land nun, Antworten auf Fragen zu finden, die seit der Pandemie unbeantwortet geblieben sind.

Was die Entscheidung für das Gesundheitswesen bedeutet

Das Urteil hat nicht nur juristische, sondern auch organisatorische Folgen. Kliniken müssen ihre Notfall- und Triagepläne überprüfen, Ärzte benötigen klare Handlungsempfehlungen, und die Länder stehen vor der Aufgabe, neue gesetzliche Grundlagen zu schaffen. Fachgesellschaften fordern eine bundesweite Ethikkommission, die in Krisensituationen Empfehlungen ausspricht.

  • Zuständigkeit: Länder müssen künftig Triage-Regelungen selbst festlegen.
  • Rechtsfolgen: § 5c IfSG ist aufgehoben – Ärztinnen und Ärzte können sich auf Art. 12 GG berufen.
  • Gesellschaftliche Aufgabe: Entwicklung einer neuen, ethisch und medizinisch tragfähigen Entscheidungsbasis.

Ein Urteil mit Nachhall – und offenen Fragen

Die Karlsruher Entscheidung beendet keine Debatte, sie eröffnet eine neue. Sie zwingt Politik, Medizin und Gesellschaft, das Verhältnis von Ethik, Verantwortung und Rechtsstaatlichkeit neu auszubalancieren. Wer entscheidet, wenn Ressourcen knapp sind? Wie lässt sich Diskriminierung vermeiden, ohne die Entscheidungsfreiheit der Ärzte zu lähmen? Und wer trägt am Ende die Verantwortung?

Solange diese Fragen unbeantwortet bleiben, wird das Urteil des Bundesverfassungsgerichts nicht nur als juristischer Meilenstein, sondern auch als Mahnung in Erinnerung bleiben – eine Mahnung, dass selbst im Angesicht knapper Ressourcen die Würde des Menschen und die Freiheit des ärztlichen Gewissens nicht verhandelbar sind.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.