Autofrei wohnen – ein Konzept unter Druck Hamburgs Wohnungsunternehmen Saga plant Mieten ohne Pkw-Besitz und löst breite Debatte aus

In Umwelt
Dezember 04, 2025

Hamburg, 04. Dezember 2025. Zwischen Elbinseln, Wind und Wasser entsteht ein ungewöhnliches Wohnprojekt: ein Neubau, in dem der Besitz eines Autos tabu sein soll. Was als Experiment für nachhaltiges Wohnen gedacht ist, entwickelt sich binnen Stunden zu einem kontroversen Thema – und rückt ein kommunales Wohnungsunternehmen in den Fokus einer grundsätzlichen Debatte.

Die Saga Unternehmensgruppe, Hamburgs größter öffentlicher Vermieter mit rund 140.000 Wohnungen, plant ein Neubauvorhaben im Stadtteil Wilhelmsburg, das eine strikte Bedingung enthält: Wer eine der 58 neuen Wohnungen beziehen möchte, darf kein Auto besitzen und verpflichtet sich vertraglich, künftig ebenfalls keines anzuschaffen. Der Konzern beschreibt das Projekt als Teil eines „autofreien Wohnkonzepts“, das nachhaltige Mobilität fördern und Flächen anders nutzen soll. Die Idee: Räume, die sonst für Autos vorgesehen wären, sollen Fahrrädern, Lastenrädern und gemeinschaftlicher Nutzung zugutekommen.

Ein geplantes Konzept mit klaren Regeln

Die neuen Wohnungen am Niedergeorgswerder Deich sollen voraussichtlich 2026 bezugsfertig sein. Die Umgebung ist geprägt von Wasserlagen, Kleingärten und einem Mix aus alten und neuen Wohnquartieren. Nach Angaben der Saga wurde das autofreie Konzept vertraglich mit der Grundstücksverkäuferin vereinbart. Es sieht vor, dass Interessentinnen und Interessenten beim Einzug bestätigen müssen, keinen Pkw zu besitzen. Damit einher geht die Verpflichtung, während der gesamten Mietzeit auf ein Auto zu verzichten.

Im Gegenzug soll das Neubauprojekt mit ausreichend Fahrradstellplätzen, Abstellräumen und Infrastruktur ausgestattet werden, die auf alternative Mobilitätsformen ausgelegt ist. Auch Lastenräder sollen einen festen Platz erhalten. Die Saga beschreibt das Konzept als bewusstes Angebot für Haushalte, die ohnehin autofrei leben oder diesen Schritt aktiv gehen wollen.

Vergabekriterien bei Hamburgs größtem Vermieter

Grundsätzlich vergibt die Saga ihre Wohnungen über ein Portal, das Interessenten anhand von Haushaltsgröße, Einkommen und Wohnberechtigungsschein filtert. Die Auswahl erfolgt innerhalb dieser Kriterien nach dem Zufallsprinzip und unter Berücksichtigung haushaltsgerechter Wohnungsgrößen. Das autofreie Projekt fügt dem Verfahren eine zusätzliche Ebene hinzu – eine Bedingung, die über die üblichen Kriterien hinausgeht und damit neue Diskussionen auslöst.

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Der Verzicht auf ein Auto greift dabei nicht nur in Mobilitätsgewohnheiten ein, sondern berührt auch Fragen der Daseinsvorsorge, insbesondere in Stadtteilen, die zwar gut angebunden sind, aber dennoch auf individuelle Mobilität angewiesen sein können. Genau dieser Punkt liefert den Nährboden für Kritik.

Kritik von Juristen und Mietervereinen

Die Ankündigung löste juristische Fragen aus, die das Projekt ins Zentrum öffentlicher Debatten rückten. Ein Fachanwalt des Deutschen Anwaltvereins äußerte erhebliche Zweifel daran, dass ein Mietvertrag den vollständigen Verzicht auf ein Auto verlangen dürfe. Ein solcher Eingriff könne als unangemessene Benachteiligung ausgelegt werden, da der Pkw-Besitz – unabhängig davon, wo er abgestellt wird – in die private Lebensführung falle.

Auch der Hamburger Mieterverein warnte vor rechtlichen Unsicherheiten und verwies auf einen früheren Fall in Münster. Dort war ein ähnlicher Versuch gescheitert, weil sich entsprechende Klauseln nicht dauerhaft durchsetzen ließen. Nach Einschätzung des Vereins könnten auch in Hamburg vergleichbare Schwierigkeiten auftreten, insbesondere wenn Mieter später dennoch ein Auto anschaffen oder die Klausel als unzulässige Einschränkung gewertet wird.

Zentrale Kritikpunkte im Überblick

  • Unsicherheit, ob ein pauschales Pkw-Verbot in Mietverträgen zulässig ist
  • Gefahr einer mittelbaren Benachteiligung bestimmter Haushalte
  • Verweis auf gescheiterte autofreie Wohnmodelle in anderen Städten
  • Unklarheit, wie ein Verstoß gegen die Pkw-Klausel kontrolliert oder sanktioniert werden könnte

Was bedeutet das Konzept für Mieterinnen und Mieter?

In einer angespannten städtischen Wohnungslage wie Hamburgs inszeniert sich das Projekt als Modell für nachhaltigere Stadtentwicklung. Es stellt aber gleichzeitig die Frage, ob Mobilitätskonzepte von Vermietern vorgegeben werden dürfen – und wie weit diese Vorgaben reichen können. Für viele Haushalte ist ein Auto kein Ausdruck von Luxus, sondern ein funktionaler Bestandteil des Alltags, etwa für Arbeitswege, familiäre Verpflichtungen oder medizinische Versorgung.

Befürworter der autofreien Idee betonen wiederum, dass Wohnprojekte ohne Auto-Infrastruktur Freiflächen schaffen, Verkehrsflächen reduzieren und klimafreundliche Alternativen stärken können. Das Neubauprojekt der Saga wäre eines der wenigen größeren kommunalen Angebote in Deutschland, das diesen Ansatz konsequent verfolgt. Der tatsächliche Beitrag des Modells zum Klimaschutz bleibt jedoch abhängig davon, ob es in dieser Form umgesetzt werden kann.

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Saga reagiert und prüft das Projekt erneut

Angesichts der Kritik kündigte die Saga an, die rechtlichen Bedingungen und Vereinbarungen erneut zu prüfen. Insbesondere die Vorgabe der Grundstücksverkäuferin soll noch einmal bewertet werden. Offen ist auch, ob die verpflichtende Autofreiheit am Ende bestehen bleibt oder ob sie durch andere Maßnahmen abgeschwächt wird – etwa durch freiwillige Mobilitätskonzepte oder alternative Vertragsklauseln.

Die Saga betonte, das Ziel sei nicht, Menschen auszugrenzen, sondern nachhaltige Mobilitätsangebote im Wohnungsbau zu fördern. Die Debatte verdeutlicht jedoch, wie schmal der Grat ist zwischen innovativen Konzepten und rechtlichen Grenzen. Für Interessentinnen und Interessenten bleibt das Verfahren vorerst unklar, während das Unternehmen an einer Lösung arbeitet, die sowohl ökologischen Zielen als auch rechtlichen Rahmenbedingungen entspricht.

Ein Projekt, das weit über Wilhelmsburg hinausreicht

Die Diskussion um das autofreie Wohnen berührt zentrale Fragen moderner Stadtpolitik: Wie lassen sich Klimaziele im Alltag verankern, ohne soziale Gruppen auszuschließen? Wie weit dürfen Vermieter gehen, wenn sie ökologische Leitlinien umsetzen möchten? Und welche Rolle spielt der Staat, wenn kommunale Unternehmen neue Mobilitätsmodelle erproben?

Unabhängig vom Ausgang steht fest: Das Hamburger Projekt zeigt, wie stark Wohnungsbau, Mobilität und gesellschaftliche Teilhabe miteinander verwoben sind. Es macht sichtbar, dass Stadtentwicklung längst nicht mehr nur ein bauliches, sondern ein soziales und ökologisches Thema ist – und dass jede Veränderung, so klein sie scheint, große Wellen schlagen kann.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.