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Franziska van Almsick: Der stille Kampf mit der Essstörung

In Aktuelles
August 19, 2025

In der öffentlichen Wahrnehmung ist sie eine der strahlendsten Persönlichkeiten des deutschen Sports. Doch hinter dem Erfolgsbild verbirgt sich ein jahrelanger, stiller Kampf: Franziska van Almsick spricht heute offen über ihre Essstörung – und zeigt, dass mentale Gesundheit auch im Spitzensport kein Tabuthema mehr sein darf.

Ein Sportidol bricht das Schweigen

Franziska van Almsick war mit 14 Jahren bereits ein Star, eine nationale Hoffnungsträgerin im Schwimmen, Olympionikin, Werbeikone. Doch der Preis für diese Karriere war hoch. In einem Interview gibt sie zu: “Ich kämpfe noch immer mit meiner Essstörung. Die Gedanken sind nicht verschwunden, sie gehören zu mir.” Diese Offenheit ist ungewöhnlich – gerade in einer Gesellschaft, die Perfektion feiert und Schwäche oft stigmatisiert.

Mit ihrer Ehrlichkeit stößt van Almsick eine längst überfällige Debatte an: Was passiert, wenn Sportler:innen oder Jugendliche den Anforderungen nicht mehr standhalten können? Was, wenn der Körper – einst ein Werkzeug des Erfolgs – zur Quelle von Kontrolle, Scham und Angst wird?

Essstörungen in Deutschland: Eine unterschätzte Epidemie

Laut aktuellen Hochrechnungen sind in Deutschland rund 460.000 Menschen von einer diagnostizierten Essstörung betroffen. Besonders alarmierend: Die Zahl jugendlicher Mädchen mit Essstörungen hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. In der Altersgruppe der 12- bis 17-Jährigen beträgt der Anteil heute rund 7,5 %. Hinzu kommen viele unerkannte oder nicht gemeldete Fälle.

Die häufigsten Formen von Essstörungen

  • Anorexia nervosa (Magersucht): Starkes Untergewicht, Angst vor Gewichtszunahme, gestörtes Körperbild.
  • Bulimia nervosa (Bulimie): Essanfälle gefolgt von kompensatorischem Verhalten wie Erbrechen oder Fasten.
  • Binge-Eating-Störung: Wiederkehrende Heißhungeranfälle ohne Gegenmaßnahmen, häufig verbunden mit Scham.

Essstörungen betreffen überwiegend Frauen, doch auch bei Jungen und Männern nehmen die Fälle zu. Wichtig: Eine Essstörung kann auch bei Normalgewicht oder Übergewicht vorliegen – entscheidend ist das gestörte Verhältnis zum Essen und zum eigenen Körper.

Was sind die Ursachen von Essstörungen?

Essstörungen entstehen durch ein komplexes Zusammenspiel aus biologischen, psychischen und sozialen Faktoren. Biologisch kann eine genetische Veranlagung eine Rolle spielen – etwa eine familiäre Häufung von Anorexie oder neurobiologische Veränderungen im Hirnstoffwechsel. Psychologisch wirken häufig geringes Selbstwertgefühl, Perfektionismus oder traumatische Erlebnisse als Auslöser.

Franziska van Almsick beschreibt ihren persönlichen Hintergrund so: „Es ging nie darum, dass ich mich hässlich fand. Es ging darum, dass ich mich nicht geliebt habe.“ Diese Aussage trifft den Kern vieler Erkrankungsverläufe: Die Essstörung wird zu einem Versuch, Kontrolle über das eigene Leben zurückzugewinnen – oft dort, wo emotionale Kontrolle fehlt.

Ein ständiger Begleiter – auch Jahre nach dem Rückzug

Auch nach dem Karriereende bleibt die Essstörung für van Almsick präsent. In schwierigen Lebensphasen schleichen sich die alten Muster zurück: unregelmäßiges Essen, Gedanken über Kontrolle, Selbstkritik. Sie selbst spricht von der Essstörung als „Warnsignal“: Wenn sie auftaucht, ist das für sie ein Zeichen, innezuhalten, zu reflektieren – und sich um sich selbst zu kümmern.

„Ich habe gelernt, dass ich heute Nein sagen darf. Früher habe ich funktioniert“, erklärt sie. Doch dieser Lernprozess war lang – und ist für viele Betroffene ein lebenslanger Weg.

Was passiert, wenn Essstörungen unbehandelt bleiben?

Wird eine Essstörung nicht behandelt, können die gesundheitlichen Folgen gravierend sein. Magersucht führt zu gefährlichen Mangelzuständen, Knochenabbau, Herzrhythmusstörungen und im Extremfall zum Tod. Auch Bulimie kann durch ständiges Erbrechen die Speiseröhre, Zähne und Organe schädigen. Das Risiko für Suizid ist deutlich erhöht. Allein 2022 wurden 77 Todesfälle direkt mit Essstörungen in Verbindung gebracht.

Typische gesundheitliche Folgen

EssstörungGesundheitliche Folgen
AnorexieUntergewicht, Knochenschwund, Herzprobleme, Zyklusstörungen
BulimieElektrolytstörungen, Zahnschäden, Speiseröhrenentzündungen
Binge-EatingÜbergewicht, Diabetesrisiko, Depressionen

Social Media: Katalysator oder Krisenauslöser?

Ein noch relativ neues, aber stark wachsendes Feld ist der Einfluss digitaler Medien. Studien zeigen: Plattformen wie Instagram, TikTok oder Pinterest fördern ein ästhetisch stark gefiltertes Bild vom „perfekten Körper“. Vor allem junge Nutzer:innen sind anfällig. 59 % der befragten Mädchen geben an, dass soziale Medien ihr Körperbild negativ beeinflussen.

Der sogenannte „digitale Schlankheitsdruck“ entsteht durch Algorithmen, die bestimmte Körperformen bevorzugt anzeigen. Hinzu kommen problematische Bewegungen wie „Pro-Ana“ oder „Skinny Girl Mindset“, die Essstörungen sogar glorifizieren. In manchen Foren werden „Tipps“ zum Hungern geteilt, Gewichts-Wettbewerbe veranstaltet oder sogenannte „heilige Texte“ als Motivation verbreitet.

Wie beeinflusst Social Media Essverhalten?

Plattformen mit schwacher Moderation – etwa Foren oder ältere Blogs – verstärken oft die Echokammer-Effekte: Wer sich ohnehin mit dem Thema beschäftigt, bekommt verstärkt Inhalte gezeigt, die das ungesunde Verhalten bestätigen oder bestärken. Besonders gefährlich ist dies bei Jugendlichen, die auf der Suche nach Orientierung sind.

Wie hoch sind die Heilungschancen bei Essstörungen?

Die gute Nachricht: Essstörungen sind behandelbar – je früher, desto besser. Besonders bei jungen Menschen sind die Chancen auf vollständige Heilung hoch, wenn rechtzeitig eine Therapie beginnt. Etwa 40 % der Magersucht-Fälle heilen vollständig, bei der Bulimie sind es rund 50 %. Die Binge-Eating-Störung hat mit etwa zwei Drittel die höchste Heilungsrate.

Wie können Angehörige helfen?

Die Rolle des Umfelds ist entscheidend. Eltern, Partner:innen oder Freund:innen sollten behutsam, ohne Druck oder Schuldzuweisungen das Gespräch suchen. Statt über Gewicht oder Kalorien zu sprechen, helfen Ich-Botschaften und echte Zuwendung. Einfache Tipps:

  • Vermeiden Sie Bewertungen von Körpern – auch im Alltag.
  • Seien Sie verlässlich – auch bei Rückschlägen.
  • Ermutigen Sie zur Therapie, aber setzen Sie keine Ultimaten.
  • Fördern Sie gemeinsame Aktivitäten ohne Essensbezug.

Welche Tests oder Selbstchecks gibt es zur Orientierung?

Online finden sich verschiedene Selbsttests, die Fragen zu Essverhalten, Selbstwert und Kontrollmustern enthalten. Diese dienen der ersten Orientierung – ersetzen aber keine ärztliche Diagnose. Wer regelmäßig an Essen denkt, sich nach dem Essen schuldig fühlt oder häufig Gewicht kontrolliert, sollte professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.

Der Preis des Erfolgs – und der Mut zur Ehrlichkeit

Franziska van Almsick ist nicht die Einzige, die in jungen Jahren ins Rampenlicht rückte – aber eine der Wenigen, die über ihre Verletzlichkeit spricht. Als Jugendliche habe sie „funktionieren“ müssen. Die Öffentlichkeit habe erwartet, dass sie stark sei. Und so habe sie versucht, alles unter Kontrolle zu halten – auch ihren Körper.

Heute, mit fast 50 Jahren, sagt sie: „Ich bin stolz auf das, was ich geschafft habe. Aber ich bin noch stolzer darauf, dass ich gelernt habe, auch mal zu scheitern.“ Diese Worte haben Gewicht – nicht nur für Betroffene, sondern auch für eine Gesellschaft, die immer noch zu oft Stärke mit Leistung verwechselt.

Ein Plädoyer für mehr Verständnis und Aufklärung

Essstörungen sind keine Modeerscheinung, keine Phase und kein Luxusproblem. Sie sind ernsthafte Erkrankungen mit seelischen Wurzeln. Wer sie versteht, kann früh helfen, vorbeugen und unterstützen. Franziska van Almsick zeigt, dass es Mut braucht, darüber zu sprechen – aber dass dieser Mut Leben retten kann.

Möge ihre Geschichte Anstoß sein, genauer hinzuschauen: auf unsere Kinder, auf uns selbst, auf die Welt, in der wir leben – und die Ideale, die wir weitergeben.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.