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Nobelpreisträgerin Ebadi mit klarer Stelleung zur Situation im Iran

In Aktuelles
Juni 23, 2025
Nobelpreisträgerin Ebadi

Die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi hat in einem aktuellen Interview erneut eine drastische Einschätzung zur politischen Lage in ihrem Heimatland Iran abgegeben: Ihrer Ansicht nach steht die Islamische Republik kurz vor dem Zusammenbruch. Während sie betont, keinen genauen Zeitpunkt vorhersagen zu können, sei die Erosion der Machtstrukturen für sie unübersehbar. Doch was steckt hinter dieser Einschätzung – und wie bewerten andere Stimmen aus Gesellschaft, Opposition und Wissenschaft die Lage im Iran?

Stimmungsbild im Iran: Zwischen Hoffnung und Repression

Die öffentliche Stimmung innerhalb der iranischen Gesellschaft ist von tiefer Unzufriedenheit geprägt. Umfragen und Analysen internationaler Organisationen zufolge lehnen rund 80 Prozent der iranischen Bevölkerung das aktuelle Regime ab. Viele dieser Menschen trauen sich jedoch aus Angst vor Repressionen nicht, aktiv Widerstand zu leisten. Protestbewegungen wie „Frau, Leben, Freiheit“ zeigen zwar eindrucksvoll den Willen zum Wandel, doch brutale Gegenmaßnahmen durch staatliche Sicherheitskräfte haben in der Vergangenheit jede Hoffnung auf raschen Wandel immer wieder zerschlagen.

Seit dem Tod der jungen Frau Mahsa Amini im Jahr 2022 durch die sogenannte Sittenpolizei ist die Protestkultur im Iran jedoch tiefer verwurzelt denn je. Über 550 Tote wurden allein im Zuge dieser Bewegung registriert, darunter viele Jugendliche. Trotzdem halten die Proteste an – nicht zuletzt durch den Mut der Frauen, die sich gegen die islamischen Kleidervorschriften und für grundlegende Bürgerrechte einsetzen.

Zersplitterte Opposition im In- und Ausland

Ein zentrales Problem bleibt die fehlende Einigkeit innerhalb der iranischen Opposition. Diese ist zersplittert in verschiedene Lager: Auf der einen Seite die monarchistischen Kräfte um Reza Pahlavi, den Sohn des letzten Schahs. Auf der anderen Seite stehen reformorientierte Kräfte im Exil sowie säkulare Bewegungen, etwa die Volksmudschahedin (MEK). Während Reza Pahlavi ein Übergangsmodell für die Zeit nach dem Regime anbietet, sind viele Kritiker skeptisch gegenüber seiner monarchistischen Vergangenheit.

Die Vielfalt der Oppositionsstimmen hat zwar demokratisches Potenzial, verhindert jedoch eine kohärente Strategie. Auch innerhalb des Landes sind viele Intellektuelle und Aktivisten verunsichert: Die Angst vor erneuten Verhaftungen oder gar Folter lähmt die politische Beteiligung.

Ebadi warnt vor ausländischer Intervention

Shirin Ebadi stellt in ihrem Interview klar: Eine äußere Intervention – etwa durch die USA oder Israel – könne den Wandel im Iran nicht herbeiführen. Im Gegenteil, ein solcher Schritt würde das Regime vermutlich stabilisieren, indem es sich als Opfer externer Feinde inszenieren könnte. Ihrer Meinung nach könne der Wandel nur von innen kommen, durch den Druck der eigenen Bevölkerung.

„Ein Regime, das sich nur noch durch Gewalt und Überwachung hält, kann nicht dauerhaft bestehen. Aber der Wandel muss aus dem Herzen des Volkes kommen – nicht durch Bomben von außen.“ – Shirin Ebadi

Wirtschaftliche und soziale Zerfallserscheinungen

Auch wirtschaftlich steht der Iran mit dem Rücken zur Wand. Die nationale Währung hat drastisch an Wert verloren, die Inflation liegt seit Jahren im zweistelligen Bereich. Versorgungskrisen, Medikamentenmangel, Wasserknappheit und steigende Lebensmittelpreise führen zu Unruhen, Streiks und wachsender Frustration in der Bevölkerung.

Allein im Frühjahr 2025 kam es zu landesweiten Arbeitsniederlegungen von Pflegekräften, LKW-Fahrern und Landwirten. Der sogenannte „Brain Drain“ – die massive Auswanderung gut ausgebildeter junger Menschen – nimmt weiter zu. Laut Schätzungen haben in den letzten fünf Jahren über eine halbe Million Akademiker das Land verlassen.

Die Rolle der Revolutionsgarden (IRGC)

Ein zentrales Machtinstrument des iranischen Regimes sind die Islamischen Revolutionsgarden (IRGC). Sie kontrollieren nicht nur militärisch-polizeiliche Strukturen, sondern auch große Teile der Wirtschaft. Nach aktuellen Schätzungen haben sie direkten oder indirekten Einfluss auf 20 bis 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Durch diese wirtschaftliche Macht sichern sie sich nicht nur Ressourcen, sondern auch Loyalität – ein strategischer Vorteil in Zeiten gesellschaftlicher Unruhen.

Parallel wird die digitale Überwachung stetig ausgebaut. Nach den Protesten um Mahsa Amini setzte der Staat auf digitale Kontrolle: Gesichtserkennung, Drohnenüberwachung, Zensur und Internet-Blackouts gehören inzwischen zum Alltag der Repressionspolitik. Im Juni 2025 kam es erneut zu einem fast vollständigen Internetausfall, der die Protestbewegung lahmlegen sollte – mit massiven wirtschaftlichen Kollateralschäden.

Ideologische Verhärtung oder schleichende Transformation?

Ein weiterer Aspekt, der das künftige Schicksal des Regimes bestimmen könnte, ist der ideologische Kurs. Während Hardliner weiterhin auf totale Kontrolle und religiöse Dogmen setzen, gibt es in Teilen der politischen Elite auch pragmatische Stimmen. Diese setzen sich für gezielte Modernisierungen ein, um das System langfristig zu stabilisieren – ein gefährlicher Spagat zwischen Reform und Repression.

Internationale Beobachter sehen in diesem Dualismus ein mögliches Einfallstor für einen schleichenden Wandel – sofern die politische Führung unter Druck gerät. Der Gesundheitszustand von Revolutionsführer Ayatollah Khamenei nährt zusätzlich Spekulationen über einen anstehenden Führungswechsel.

Machtvakuum oder Neuanfang? Khameneis Nachfolge

Die Diskussion über die Nachfolge des inzwischen 86-jährigen Ayatollah Khamenei ist in vollem Gange. Als potenzieller Nachfolger gilt sein Sohn Mojtaba Khamenei, der als noch radikaler gilt als sein Vater. Gleichzeitig bringen einige Kreise den reformorientierten Hassan Khomeini, Enkel des Revolutionsgründers, ins Spiel.

Ein Führungswechsel könnte zu einem Machtvakuum oder sogar zu internen Machtkämpfen führen – mit ungewissem Ausgang. Einige Analysten halten ein Interregnum für möglich, in dem verschiedene Machtzentren (IRGC, Klerus, Exilregierung) um die Vorherrschaft kämpfen könnten.

Szenarien für die Zukunft

Wie könnte ein Wandel im Iran konkret aussehen? Internationale Szenarien reichen von einem langsamen Zerfall des Regimes über einen abrupten Umsturz bis hin zu einem Bürgerkrieg. Am wahrscheinlichsten scheint aktuell eine fortschreitende Erosion von innen, ausgelöst durch zunehmenden ökonomischen Druck, sozialen Protest und internationale Isolierung.

Mögliche Entwicklungsszenarien im Überblick

SzenarioBeschreibungRisiken
Langsamer MachtverfallWiderstand wächst, das Regime verliert schrittweise KontrolleInstabilität, fehlende Struktur für Neuanfang
Abrupter UmsturzMassive Proteste oder Elite-Zerfall führen zum ZusammenbruchGefahr eines Machtvakuums, möglicher Bürgerkrieg
Militärischer PutschIRGC übernimmt offen die MachtVerfestigung autoritärer Strukturen
Reform von innenPragmatische Kräfte setzen schrittweise Öffnung durchLangsame Veränderung, geringe Durchsetzungskraft

Fazit: Der Wandel ist greifbar, aber ungewiss

Shirin Ebadis Einschätzung mag drastisch wirken, doch sie steht auf einem Fundament aus Fakten, Entwicklungen und gesellschaftlichem Druck. Die Islamische Republik Iran befindet sich an einem Scheideweg – das Ende in seiner derzeitigen Form scheint für viele nur noch eine Frage der Zeit.

Ob dieser Wandel jedoch friedlich, geordnet und demokratisch erfolgt, hängt maßgeblich vom Mut der Bevölkerung, der Einigkeit der Opposition und dem Verhalten internationaler Akteure ab. Die kommenden Monate könnten entscheidend dafür sein, ob aus dem Regimeverfall ein Neuanfang erwächst – oder ein neues Kapitel der Unterdrückung folgt.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.