
Berlin
Die ikonische East Side Gallery in Berlin wurde erneut Ziel einer spektakulären Protestaktion. Aktivisten der Gruppe „Neue Generation“ haben das berühmte Wandbild „Bruderkuss“ mit roter Farbe beschmiert und einen politischen Schriftzug hinterlassen. Die Aktion entfachte nicht nur juristische Konsequenzen, sondern auch eine breite gesellschaftliche Debatte über Kunst, Protest, Erinnerungskultur und Denkmalschutz.
Was ist passiert?
Am frühen Vormittag des 20. Juni besprühten zwei Frauen und ein Mann der Gruppierung „Palestine Rising“, einer Untereinheit der als radikal geltenden Klimaprotestbewegung „Neue Generation“, das Wandgemälde „Bruderkuss“ mit roter Farbe. Auf dem Kunstwerk prangte anschließend der Schriftzug „Stop Genocide“ – eine klare Anspielung auf den Gaza-Krieg und die Unterstützung Israels durch Deutschland.
Die Polizei war rasch vor Ort und nahm die drei Personen fest. Es wurde ein Ermittlungsverfahren wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung eingeleitet. Die Beschädigung betrifft eines der weltweit bekanntesten Kunstwerke im öffentlichen Raum – das Gemälde von Dmitri Wrubel, das Leonid Breschnew und Erich Honecker in einer innigen Umarmung zeigt, gemalt 1990 auf einem originalen Stück der Berliner Mauer.
Hintergrund: Die East Side Gallery als kulturelles Erbe
Die East Side Gallery ist die längste Open-Air-Galerie der Welt. Sie entstand 1990 unmittelbar nach dem Fall der Mauer und erstreckt sich über 1,3 Kilometer entlang der Spree im Berliner Stadtteil Friedrichshain. Insgesamt 105 Wandbilder von 118 Künstler:innen aus 21 Ländern erzählen Geschichten des Umbruchs, der Freiheit und der Hoffnung. Seit 2009 steht die Galerie unter Denkmalschutz.
Das Bild „Bruderkuss“ ist dabei eines der zentralen Symbole. Es basiert auf einer Fotografie von 1979, die den sozialistischen Bruderkuss zwischen den damaligen Staatschefs der Sowjetunion und der DDR zeigt. Dmitri Wrubel übertrug dieses Motiv mit der Unterschrift „Mein Gott, hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben“ auf die Mauer – ein Werk mit starker politischer Botschaft, das seither millionenfach fotografiert wurde.
Die Motivation der Aktivisten
Die Gruppe „Palestine Rising“ versteht sich als Friedensbewegung, die durch gezielte Störungen Aufmerksamkeit auf die Situation im Gazastreifen lenken will. In ihrer Stellungnahme heißt es: „Wir protestieren gegen die deutsche Waffenlieferung an Israel und fordern ein sofortiges Ende der Beihilfe zu Völkermord.“
Bereits in der Vergangenheit hatte die Gruppierung Aktionen in Berlin durchgeführt, darunter Sitzblockaden und Plakataktionen. Die aktuelle Aktion reiht sich ein in eine Serie von politischen Kunstbeschädigungen, bei denen öffentliche Wahrzeichen als Projektionsfläche für politische Botschaften genutzt werden.
Juristische Konsequenzen
Nach dem Vorfall hat die Berliner Polizei Ermittlungen wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung aufgenommen. Derzeit laufen die Vernehmungen, die genaue Schadenshöhe wird noch ermittelt. Die Beschädigung eines unter Denkmalschutz stehenden Objekts kann zu empfindlichen Geldstrafen oder Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren führen.
Juristen betonen jedoch, dass auch das Spannungsfeld zwischen Protest und Kunstfreiheit beachtet werden müsse. Es sei Aufgabe der Gerichte, zwischen politischer Meinungsäußerung und strafbarer Handlung eine differenzierte Bewertung vorzunehmen.
Stimmen aus der Kunst- und Denkmalpflege
Zahlreiche Künstler:innen und Denkmalpfleger:innen haben sich besorgt über die zunehmende Instrumentalisierung von Kunst geäußert. Ein Vertreter der Stiftung Berliner Mauer, die die East Side Gallery verwaltet, erklärte: „Kunstwerke wie der ‚Bruderkuss‘ sind Mahnmale unserer Geschichte. Ihre Zerstörung schwächt nicht nur den Denkmalschutz, sondern auch die kollektive Erinnerung.“
Auch aus kunsthistorischer Sicht ist die Aktion problematisch. Bereits in der Vergangenheit sorgten Restaurierungen ohne Zustimmung der ursprünglichen Künstler für Kontroversen. Die Frage nach dem Urheberrecht steht ebenso im Raum wie die Verantwortung gegenüber dem kulturellen Gedächtnis einer Nation.
Vergleichbare Protestaktionen weltweit
Die Aktion reiht sich ein in eine internationale Protestbewegung, bei der Kunst gezielt als Bühne genutzt wird. Bereits in den letzten Jahren kam es zu einer Reihe spektakulärer Aktionen:
- Im Oktober 2022 bewarfen Klimaaktivisten in London ein van-Gogh-Gemälde mit Tomatensuppe.
- In Paris wurde 2023 ein Monet-Gemälde mit roter Farbe übergossen.
- Auch in deutschen Museen – etwa in Potsdam – wurden Werke Ziel politischer Botschaften.
Diese Aktionen sind Ausdruck eines Trends: Kunst wird nicht nur als Symbol, sondern auch als Kommunikationsmittel für drängende globale Probleme wie Klimakrise, Kriege oder soziale Ungleichheit genutzt. Kritiker sprechen von „kulturellem Vandalismus“, Befürworter von „notwendiger Irritation“.
Denkmalschutz im Spannungsfeld von Politik und Kommerz
Die East Side Gallery ist seit Jahren im Fokus städtebaulicher und wirtschaftlicher Interessen. 2013 sorgte der geplante Abriss eines Mauerstücks für ein Luxuswohnprojekt für Proteste in Berlin. Denkmalpfleger, Stadtplaner und Künstler kämpfen seitdem um den Erhalt des historischen Ensembles.
Gleichzeitig wird diskutiert, ob eine Aufnahme in das UNESCO-Weltkulturerbe-Register möglich ist. Der Denkmalexperte Leo Schmidt plädierte in einem Interview für eine „globale Anerkennung der East Side Gallery als einzigartiges Zeugnis der Überwindung totalitärer Systeme“.
Internationale Reaktionen und kulturelle Deutungen
In internationalen Medien wurde die Aktion unterschiedlich bewertet. Während manche Kommentatoren sie als „radikal, aber wirksam“ bezeichneten, verwiesen andere auf die Gefahr, dass durch solche Protestformen der öffentliche Rückhalt für die Anliegen schwindet.
Besonders interessant ist dabei die Einbettung in postkoloniale Theorieansätze. Politische Geographen und Kultursoziologen sprechen von „neuen politischen Geographien“, bei denen öffentliche Räume durch symbolische Aktionen neu definiert werden. Kunst im öffentlichen Raum sei dabei nicht nur kulturelles Gut, sondern auch politischer Raum.
Palästinensische Perspektiven auf Kunst als Widerstand
Parallel zur Radikalisierung auf der Straße entstehen im Exil differenzierte künstlerische Auseinandersetzungen mit der Palästina-Thematik. Junge palästinensische Fotograf:innen in New York, Berlin oder London nutzen ihre Kunst, um auf Identitätsfragen, Vertreibung und Erinnerung aufmerksam zu machen. Diese Werke entstehen abseits des medialen Aufsehens und versuchen durch Dialog statt Konfrontation zu wirken.
Diese Gegenbewegung zeigt: Politischer Ausdruck muss nicht zwangsläufig in Beschädigung münden. Vielmehr lassen sich durch Ausstellungen, Installationen oder Performances Wege finden, auf Missstände aufmerksam zu machen – ohne historische Kunstwerke zu kompromittieren.
Redefreiheit und Verantwortung
Ein zentrales Spannungsfeld bleibt: Wo endet das Recht auf freie Meinungsäußerung – und wo beginnt strafbarer Vandalismus? International aktive Organisationen wie PEN fordern, friedliche Protestformen nicht vorschnell zu kriminalisieren. Sie argumentieren, dass der öffentliche Raum immer auch ein Ort politischer Debatte sein müsse.
Dem entgegnet die Denkmalpflege: Der Schutz historischer Substanz sei essenziell – auch als Garant der freien Gesellschaft. Wer Denkmale zerstört, zerstöre letztlich auch das Fundament des demokratischen Diskurses.
Fazit: Zwischen Protest und Provokation
Die Beschädigung des „Bruderkuss“-Gemäldes hat erneut gezeigt, wie stark Kunst im Zentrum gesellschaftlicher Auseinandersetzungen steht. Die Aktion war Ausdruck politischer Überzeugung – doch sie wirft auch grundsätzliche Fragen auf:
- Wie kann Kunst geschützt werden, ohne den öffentlichen Raum zu entpolitisieren?
- Welche Protestformen sind legitim – und wo ist die Grenze überschritten?
- Wie gehen wir mit einem Erbe um, das gleichzeitig Mahnmal, Kunstwerk und Projektionsfläche ist?
Diese Fragen werden die Debatte um Protest, Kunst und Erinnerung weiter prägen. Die kommenden Wochen dürften zeigen, ob aus dem Vorfall juristische, denkmalpolitische oder gar gesellschaftliche Konsequenzen erwachsen. Sicher ist: Die East Side Gallery bleibt ein Ort, an dem Geschichte geschrieben – und umgeschrieben – wird.