
Göttingen – Ein jahrelang schwelender Fall sexueller Übergriffe an der Universität Göttingen sorgt erneut für heftige Diskussionen. Ein Professor, der über Jahre hinweg Frauen in seinem beruflichen Umfeld belästigt und sogar körperlich misshandelt haben soll, wurde nun von einem Gericht zu einer empfindlichen Gehaltskürzung verurteilt. Die Universität spricht von Konsequenz, viele Betroffene jedoch fühlen sich erneut im Stich gelassen.
Ein Urteil mit Signalwirkung – oder ein fatales Zeichen?
Der Fall des Göttinger Professors hat weit über die niedersächsische Stadt hinaus Aufmerksamkeit erregt. Nach mehrjähriger Aufarbeitung in verschiedenen Instanzen wurde das Urteil im Frühjahr 2025 rechtskräftig: Statt einer Entlassung erhält der beschuldigte Hochschullehrer für fünf Jahre monatlich rund 2.000 Euro weniger Gehalt. Obwohl die Vorwürfe schwerwiegend sind – darunter sexuelle Belästigung, körperliche Gewalt und Machtmissbrauch – bleibt der Professor weiterhin verbeamtet.
In mindestens sechs Fällen wurden Übergriffe gegenüber Studentinnen, wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Doktorandinnen bestätigt. Der Fall offenbart nicht nur individuelle Verfehlungen, sondern legt ein strukturelles Problem offen: die fehlende Transparenz und Konsequenz im Umgang mit Machtmissbrauch an deutschen Hochschulen.
Die Chronologie eines Skandals
Frühe Hinweise – späte Konsequenzen
Bereits in den Jahren 2012 und 2013 wurde der Professor von der Universitätsleitung schriftlich auf sein untragbares Verhalten hingewiesen. Doch konkrete Maßnahmen blieben aus. Erst als sich die Vorwürfe mehrten und öffentliche Aufmerksamkeit entstand, reagierte die Hochschule konsequenter: Der Mann erhielt Hausverbot, seine Lehr- und Forschungstätigkeit wurde eingestellt. Dennoch: Disziplinarrechtlich zog sich der Vorgang über nahezu acht Jahre hin.
Die juristische Bewertung
Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg entschied, dass eine Gehaltskürzung angemessen sei, da eine vollständige Entlassung aus dem Beamtenverhältnis “nicht verhältnismäßig” sei. Eine umstrittene Entscheidung, die von vielen Seiten – insbesondere Betroffenen und Beobachtern – als unzureichend kritisiert wird. In der Urteilsbegründung wurde allerdings anerkannt, dass es sich um gravierende Pflichtverletzungen handelt.
„Ich fühle mich ein zweites Mal erniedrigt“ – Stimmen der Betroffenen
Während die juristische Entscheidung gefällt wurde, meldeten sich auch mehrere betroffene Frauen öffentlich zu Wort. Eine der ehemaligen Doktorandinnen erklärte: „Ich habe kein Vertrauen mehr ins deutsche Rechtssystem. Nach dem, was passiert ist, und wie damit umgegangen wurde, fühle ich mich ein zweites Mal erniedrigt.“
Diese Stimmen zeichnen ein bedrückendes Bild: Ein Machtgefälle, das nicht nur ausgenutzt wurde, sondern auch institutionell nicht ausreichend eingedämmt wurde. Die Betroffenen berichteten unter anderem von psychischem Druck, grenzüberschreitenden Berührungen und körperlicher Gewalt in Form von Schlägen mit der flachen Hand und sogar einem Bambusstock – teilweise im entkleideten Zustand und in universitären Räumen.
Sexuelle Belästigung im Hochschulkontext – ein strukturelles Problem
Zahlen und Studien belegen weitverbreitetes Fehlverhalten
Die Situation in Göttingen ist kein Einzelfall. Eine europaweite Studie im Rahmen des UniSAFE-Projekts ergab, dass 62 % der befragten Personen an Hochschulen bereits Erfahrungen mit geschlechtsbezogener Gewalt gemacht haben. Davon berichteten rund 31 % von sexueller Belästigung – ein alarmierender Wert, der die strukturellen Probleme im Wissenschaftsbetrieb verdeutlicht.
Form der Gewalt | Betroffene (%) |
---|---|
Geschlechtsbezogene Gewalt insgesamt | 62% |
Sexuelle Belästigung | 31% |
Physische Übergriffe | 15% |
Verbal herabwürdigendes Verhalten | 47% |
Machtstrukturen begünstigen Abhängigkeit
Gerade in der Wissenschaft bestehen häufig hierarchische Abhängigkeitsverhältnisse, etwa zwischen Professoren und Doktorandinnen. Diese Strukturen erschweren es Betroffenen, Übergriffe zu melden. Studien zeigen, dass nur etwa 13 % der Opfer sexueller Belästigung an Hochschulen den Mut aufbringen, eine offizielle Beschwerde einzureichen. Angst vor beruflichen Nachteilen, Zweifel am eigenen Erleben und fehlende Anlaufstellen sind die Hauptgründe für das Schweigen.
Das Urteil – Symbol für Wandel oder Rückschritt?
Beamtenstatus bleibt erhalten – ein fatales Signal?
Viele Beobachter kritisieren, dass die Aufrechterhaltung des Beamtenstatus ein falsches Zeichen setze. Während in der Privatwirtschaft sexuelle Belästigung oft mit fristloser Kündigung geahndet wird, reicht im Beamtenrecht in manchen Fällen eine Gehaltskürzung aus. Für die Betroffenen ist dies schwer nachvollziehbar. In den sozialen Medien ist von „Täter-Schutz“ und „institutioneller Beihilfe“ die Rede.
Universität Göttingen: Zwischen Verantwortung und Hilflosigkeit
Die Universität selbst zeigt sich öffentlich enttäuscht über das Urteil, betont jedoch, alles in ihrer Macht Stehende unternommen zu haben. Ein Arbeitsverbot, Hausverbot und interne Ermittlungen seien bereits früh erfolgt. Doch das reicht vielen nicht aus: Die Betroffenen vermissen eine sichtbare Solidarität und echte Schutzmechanismen – jenseits von formalen Verfahrenswegen.
Ein Blick in die Tiefe: Die dunkle Seite akademischer Macht
Rohrstock, Nacktheit, Gewalt – mehr als Belästigung
Was zunächst als „sexuelle Belästigung“ eingestuft wurde, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als deutlich gravierender: In mehreren bestätigten Fällen soll der Professor Frauen genötigt haben, sich zu entkleiden, um sie dann mit einem Bambusrohr zu schlagen. In einem Fall soll dies sogar unter Androhung von Nachteilen im Promotionsverfahren geschehen sein – ein klarer Fall von Machtmissbrauch und psychischer Gewalt.
Juristische Einordnung der Taten
Die juristische Behandlung dieser Handlungen erfolgte im Rahmen disziplinarrechtlicher Verfahren. Strafrechtlich wurde der Fall bereits zuvor mit einer Bewährungsstrafe abgeschlossen. Kritiker bemängeln, dass disziplinarrechtliche Maßnahmen wie Gehaltskürzungen der Schwere der Vorwürfe nicht gerecht würden. In der Diskussion steht die Frage: Muss das Beamtenrecht an solchen Stellen reformiert werden?
Was muss sich ändern?
Forderungen nach Reformen und Prävention
Aus dem Fall ergeben sich konkrete Forderungen, sowohl an die Hochschulpolitik als auch an das Beamtenrecht:
- Unabhängige Beschwerdestellen, die außerhalb der Hierarchie der Universität agieren.
- Schnellere Verfahren mit klaren Fristen und Sanktionen.
- Stärkere rechtliche Handhabe bei erwiesener sexueller Gewalt im Beamtenverhältnis.
- Verpflichtende Schulungen für Führungskräfte an Hochschulen zum Thema Machtmissbrauch.
Viele Universitäten verfügen zwar über Gleichstellungsbeauftragte und Richtlinien zum Umgang mit sexueller Belästigung – doch deren Umsetzung ist oft zahnlos, da es an Sanktionierungsmechanismen fehlt oder der Wille zur Konsequenz nicht vorhanden ist.
Ein Fall, der ein System offenlegt
Der Göttinger Fall offenbart mit bedrückender Klarheit, wie sexualisierte Gewalt an Hochschulen geschehen kann – und wie schwer es ist, sie zu ahnden. Trotz belegter Vorwürfe und einer Verurteilung bleibt der Täter im System, mit lediglich eingeschränkter Besoldung. Für viele ist das ein Skandal, für andere ein typisches Beispiel für das Versagen institutioneller Selbstkontrolle.
Damit daraus Veränderung entsteht, braucht es mehr als öffentliche Empörung: Es braucht Reformen, unabhängige Kontrolle, echte Anlaufstellen für Betroffene – und eine klare Haltung, die signalisiert: Sexualisierte Gewalt hat im akademischen Raum keinen Platz. Niemals.