
Moskau – Mehr als drei Jahre nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine steht die russische Wirtschaft vor einer ernsten Belastungsprobe. Die anfänglichen Wachstumsimpulse durch hohe Rüstungsausgaben und staatliche Investitionen flachen deutlich ab. Internationale Organisationen, russische Regierungsstellen und unabhängige Analysten warnen gleichermaßen vor einer sich zuspitzenden Wirtschaftsflaute.
Russlands Wirtschaft am Scheideweg
Abkühlung nach dem Rüstungsboom
Die Kriegsökonomie Russlands verzeichnete in den Jahren 2023 und 2024 zunächst ein starkes Wachstum, das vor allem durch massive Rüstungsausgaben getragen wurde. Doch die aktuellen Daten zeigen, dass dieser Aufschwung ins Stocken geraten ist. Laut offiziellen Angaben wuchs das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im zweiten Quartal 2025 lediglich um 1,1 % im Vergleich zum Vorjahr. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert für 2025 nur noch ein Wachstum von 0,9 %. Damit liegt Russland weit unter dem Durchschnitt anderer Schwellenländer.
Ökonomen beschreiben diese Entwicklung als Abkühlung nach einem künstlich erzeugten Boom. „Die russische Wirtschaft steht am Rand einer Rezession“, sagte Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow bereits im Juni 2025. Während Arbeitsplätze im militärischen Sektor kurzfristig gesichert sind, leiden andere Branchen unter Investitionsflaute und anhaltender Inflation.
Die Rolle von Sanktionen und Sekundärsanktionen
Ein zentraler Faktor für die drohende Wirtschaftsflaute sind die umfassenden Sanktionen westlicher Staaten. Besonders schwer wiegt der Rückzug zahlreicher chinesischer Banken, die Zahlungen für russische Firmen aus Angst vor Sekundärsanktionen zunehmend verweigern. Dies zwingt Unternehmen, auf komplizierte Barter-Geschäfte auszuweichen – etwa den Tausch von Rohstoffen gegen Maschinen oder Industriegüter. Solche Umgehungslösungen erhöhen die Transaktionskosten und verlangsamen den Import dringend benötigter Vorleistungen.
Der Rückgang klassischer Zahlungswege bremst den internationalen Handel massiv. In sozialen Medien wird häufig diskutiert, dass Russland zwar neue Partner in Asien sucht, diese jedoch Preisabschläge fordern und dadurch die Einnahmen verringern. Das bedeutet: Selbst bei hohen Rohstoffpreisen stagnieren die Exporte, da Abnehmer wie Indien oder China günstigere Konditionen verlangen.
Finanzielle Belastungen durch den Krieg
Hohe Verteidigungsausgaben und wachsende Defizite
Ein Blick in den russischen Staatshaushalt verdeutlicht die dramatische Lage. Verteidigungsausgaben machen mittlerweile mehr als 6 % des BIP aus und beanspruchen fast ein Drittel des Bundeshaushalts. Diese Zahl ist der höchste Wert seit dem Zerfall der Sowjetunion. Um die Kriegskosten zu decken, musste Moskau sein Defizitziel für 2025 auf 1,7 % des BIP anheben. Da die Einnahmen aus Öl und Gas sinken, wird offen über Steuererhöhungen diskutiert.
Besonders umstritten ist eine geplante Anhebung der Mehrwertsteuer von 20 % auf 22 %. Beobachter sehen darin ein klares Signal, dass die Regierung trotz gegenteiliger Versprechen keine andere Wahl hat, als die Bevölkerung stärker zu belasten. „Der fiskalische Spielraum schrumpft dramatisch“, analysiert ein Experte. Viele Bürger empfinden dies als Bruch eines zentralen Versprechens von Präsident Putin.
Warum stagnieren Russlands Exporte trotz hoher Rohstoffpreise?
Die Antwort ist komplex: Zum einen wirken Sanktionen auf die Logistik und die Versicherungsbranche, wodurch Transport und Handel teurer werden. Zum anderen haben viele Abnehmerländer ihre Verhandlungsposition gestärkt, indem sie Preisnachlässe fordern. Hinzu kommt, dass Zahlungsblockaden und die Rückkehr zum Tauschhandel die Flexibilität des Handels stark einschränken.
Geldpolitik zwischen Inflation und Kreditflaute
Zentralbank im Spagat
Die russische Zentralbank steht vor einem Dilemma. Einerseits ist es ihr gelungen, die Inflation in den vergangenen Monaten leicht zu senken. Andererseits bleiben die Inflationserwartungen hoch, da Löhne steigen und die Produktionskosten wegen Arbeitskräftemangels klettern. Um die Preisstabilität zu sichern, hält die Bank an hohen Leitzinsen fest. Diese Politik hat jedoch Nebenwirkungen: Kredite für Unternehmen und Haushalte sind extrem teuer geworden.
Das Kreditwachstum ist nahezu zum Erliegen gekommen, wie Berichte aus Foren und Wirtschaftsanalyseportalen bestätigen. Unternehmen investieren kaum noch in neue Projekte, und Konsumenten nehmen weniger Kredite für Konsumgüter auf. So entsteht ein Kreislauf, der die Wirtschaft zusätzlich bremst.
Wie stark sind Russlands Devisenreserven durch den Krieg geschmälert?
Die Devisenreserven Russlands sind durch den Krieg erheblich unter Druck geraten. Der National Wealth Fund wurde bereits stark angezapft, um Haushaltsdefizite zu kompensieren. Beobachter warnen, dass der Fonds bis Ende 2025 weitgehend aufgebraucht sein könnte, wenn die Kriegsausgaben unverändert hoch bleiben. Damit schwinden die Puffer, die Russland bislang vor einer abrupten Finanzkrise geschützt haben.
Soziale und strukturelle Folgen
Der Arbeitsmarkt und die Abwanderung von Fachkräften
Während der Krieg kurzfristig Arbeitsplätze in Rüstungsbetrieben sichert, fehlen Fachkräfte in zivilen Branchen. Besonders gravierend ist der sogenannte „Brain Drain“. Studien belegen, dass allein im IT-Sektor bis Ende 2022 mehr als zehn Prozent der Entwickler das Land verlassen haben. Diese Tendenz setzt sich fort, was den Innovationssektor stark schwächt.
Wie groß ist die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte?
Die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte ist nicht nur eine Zahl in Statistiken, sondern spürbar in Projekten und Unternehmen. Viele russische Start-ups kämpfen mit Personalengpässen, internationale Kooperationen brechen weg. Der Verlust dieser Kompetenzen verschärft die strukturellen Probleme der Wirtschaft und verhindert dringend nötige Modernisierungen.
Der Druck auf Verbraucher
Die Bevölkerung spürt die wirtschaftlichen Belastungen zunehmend. Preise für Konsumgüter steigen, während Reallöhne stagnieren oder sinken. Besonders der Anstieg der Benzinpreise sorgt für Unmut: Angriffe auf Raffinerien haben dazu geführt, dass die Preise um bis zu 30 % in die Höhe geschnellt sind. Transportkosten steigen, regionale Versorgungsengpässe häufen sich – eine Entwicklung, die für viele Haushalte zu einer realen Belastung geworden ist.
Gefahr einer Stagflation
Besteht in Russland bereits eine Stagflationsgefahr?
Ja – zahlreiche Experten sprechen offen von einer Stagflationsphase. Die Kombination aus niedrigem Wachstum und hoher Inflation entspricht exakt diesem Szenario. Während staatliche Nachfrage nach Rüstungsgütern die Produktion künstlich aufrechterhält, leidet der Rest der Wirtschaft unter fehlenden Investitionen, steigenden Kosten und schwacher Konsumnachfrage. Analysten beschreiben diese Entwicklung als „Ermüdung der Kriegswirtschaft“.
Internationale Bewertungen
Internationale Organisationen wie der IWF warnen, dass Russland ohne strukturelle Reformen langfristig in einer Wachstumsfalle stecken bleibt. Selbst wenn kurzfristig ein Rückgang der Inflation gelingt, verhindern strukturelle Probleme – etwa Korruption, schwache Rechtsstaatlichkeit und fehlende Innovation – eine nachhaltige Erholung. Dies erklärt auch, warum die Prognosen für 2026 kaum besser ausfallen als die Zahlen für 2025.
Politische und gesellschaftliche Dimensionen
Welchen Spielraum hat Moskau zur Steuererhöhung?
Der Spielraum ist begrenzt. Steuererhöhungen, wie die geplante Anhebung der Mehrwertsteuer, stoßen auf breite Skepsis. Viele Bürger empfinden sie als direkte Folge des Krieges und als Verrat an früheren Zusagen der Regierung. Die soziale Belastung wächst, und es bleibt fraglich, wie lange die Bevölkerung zusätzliche Lasten hinnehmen wird, ohne dass es zu Protesten kommt.
Innere Stabilität und Propaganda
Die Regierung setzt weiterhin auf eine strikte Informationspolitik. Offizielle Verlautbarungen zeichnen häufig ein deutlich positiveres Bild der Wirtschaftslage, als unabhängige Analysen es nahelegen. Diese Diskrepanz wird in sozialen Medien intensiv diskutiert. Während Regierungsvertreter von „Stabilisierung“ sprechen, warnen Ökonomen vor dem Beginn einer längeren Stagnationsphase.
Ausblick auf die kommenden Monate
Russland zwischen Anpassung und Krise
Die kommenden Monate werden entscheidend sein. Sollte Russland seine Einnahmen aus Energieexporten nicht stabilisieren können, drohen weitere Haushaltsdefizite und zusätzliche Steuerlasten. Gleichzeitig sinken die Devisenreserven, die bislang als Puffer dienten. Auch die internationalen Finanz- und Handelsbeziehungen verschlechtern sich weiter, da Sekundärsanktionen immer mehr Partner abschrecken.
Ein Szenario, das in den Diskussionen immer häufiger genannt wird, ist das Abrutschen in eine langanhaltende Stagnation, verbunden mit steigender Inflation. Diese Entwicklung könnte nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die politische Stabilität des Landes belasten.
Russlands drohende Flaute im Detail
Zusammengefasst steht Russland vor mehreren gleichzeitigen Herausforderungen:
- Hohe Verteidigungsausgaben bei sinkenden Einnahmen
- Rückgang der Devisenreserven und wachsende Defizite
- Stagnierende Exporte trotz hoher Rohstoffpreise
- Abwanderung von Fachkräften und strukturelle Innovationsschwäche
- Hohe Zinsen, die Investitionen und Konsum dämpfen
- Gefahr einer Stagflation mit langfristigen Folgen
Ein Ende mit offenen Fragen
Die russische Wirtschaft ist an einem Punkt angekommen, an dem kurzfristige Maßnahmen kaum noch greifen. Die anhaltenden Sanktionen, die Kosten des Krieges und die strukturellen Schwächen machen eine tiefe Wirtschaftsflaute zunehmend wahrscheinlich. Während offizielle Stimmen weiterhin auf Stabilität pochen, zeichnen Daten, Prognosen und Expertenanalysen ein anderes Bild. Entscheidend wird sein, ob Russland in der Lage ist, neue Märkte und Investitionen zu erschließen – oder ob das Land in eine lange Phase wirtschaftlicher Stagnation und wachsender sozialer Spannungen eintritt.