
Ungersheim, 6. November 2025 – Zwischen Weinbergen und alten Kaligruben liegt ein Ort, der mehr als nur ein Dorf ist. Morgens rollen Pferdekutschen statt Schulbusse, Solarmodule glänzen auf den Dächern und in den Gärten wächst Gemüse für die eigene Schulkantine. Ungersheim im Elsass hat geschafft, was viele Gemeinden noch planen: den Übergang zu echter Nachhaltigkeit.
Ein kleines Dorf mit großer Idee
Rund 2.400 Einwohner zählt Ungersheim im französischen Elsass, unweit der deutschen Grenze. Was nach einem typischen ländlichen Ort klingt, ist heute ein international bekanntes Beispiel für ökologische Transformation. Unter Bürgermeister Jean-Claude Mensch, selbst ehemaliger Bergmann, begann die Gemeinde bereits Anfang der 2000er-Jahre, ihre Zukunft neu zu denken – mit dem Ziel, sich von fossilen Energien und globalen Lieferketten unabhängiger zu machen.
Das Projekt „21 Actions pour le XXIe siècle“ wurde 2011 gestartet und umfasst alle Lebensbereiche: Energie, Ernährung, Mobilität, Bildung und soziales Miteinander. Die Philosophie dahinter ist einfach und radikal zugleich – was lokal produziert werden kann, soll auch lokal entstehen. Damit steht Ungersheim stellvertretend für eine wachsende Bewegung sogenannter autarker Dörfer, die in Deutschland und Frankreich zunehmend Aufmerksamkeit erhalten.
Von der Kaligrube zum Klimadorf
Ursprünglich war Ungersheim eine Bergbau-Gemeinde. Nach dem Ende des Kaliumabbaus suchte der Ort nach neuen Perspektiven. Mensch und sein Gemeinderat entschieden, auf Nachhaltigkeit zu setzen – eine Entscheidung, die damals mutig, heute visionär wirkt. Der Bürgermeister erklärte einst in einem Interview: „Wir wollten beweisen, dass ein Dorf mit 2.000 Einwohnern die Welt verändern kann – Schritt für Schritt.“
Seitdem hat Ungersheim zahlreiche Projekte umgesetzt, die messbare Erfolge zeigen:
- Ein kommunales Solarkraftwerk mit einer Investition von rund 17 Millionen Euro liefert Strom für öffentliche Gebäude.
- Eine Holz-Biomasse-Heizung versorgt die Turnhalle, Schulen und das Rathaus.
- Die Straßenbeleuchtung wurde mit Dimmern ausgestattet – der Energieverbrauch sank um 40 %.
- Eine kommunale Biofarm mit acht Hektar Fläche produziert Gemüse für die Schulkantine und lokale Märkte.
Laut einer europäischen Studie spart Ungersheim jährlich rund 600 Tonnen CO₂ ein und senkt die öffentlichen Ausgaben um etwa 120.000 Euro. Zudem entstanden rund 100 neue Arbeitsplätze in Landwirtschaft, Handwerk und Dienstleistung.
Gemeinschaft als Antrieb
Die vielleicht wichtigste Triebkraft dieses Erfolgs ist die Bevölkerung selbst. Auf der Facebook-Seite „Ungersheim en Transition“ schreiben die Bewohner regelmäßig über ihre Projekte – vom Pflanzentausch im Frühjahr bis zu den Workshops im „Haus der Energie“. Dort treffen sich Bürgerinnen und Bürger, um über neue Ideen zu diskutieren, wie die Gemeinde noch nachhaltiger werden kann.
Viele Entscheidungen werden in Bürgerversammlungen getroffen, die demokratisch und transparent ablaufen. „Alles beginnt mit einer kollektiven Entscheidung auf menschlicher Ebene“, heißt es dort. Dieser partizipative Ansatz unterscheidet Ungersheim von reinen Technik-Initiativen: Die Transformation ist nicht nur ökologisch, sondern sozial verankert.
Eine Währung für das Dorf
Ein Beispiel für diesen Gemeinschaftsgeist ist die lokale Währung „Le Radis“. Sie wurde eingeführt, um den regionalen Konsum zu fördern. Ein Radis entspricht einem Euro – doch das Geld bleibt im Dorf. Bauern, Bäcker und Handwerker akzeptieren es, wodurch das Kapital in der lokalen Wirtschaft zirkuliert. Laut Bürgermeister Mensch stärkt das nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das Bewusstsein: „Wenn man mit dem Radis bezahlt, erinnert man sich daran, dass jeder Euro, den man hier lässt, ein Beitrag zum Gemeinwohl ist.“
Ernährungssouveränität als Ziel
Eine häufige Frage lautet, wie Ungersheim seine Ernährung selbst sichern kann. Tatsächlich hat die Gemeinde ihre Landwirtschaft konsequent umgestellt. Auf kommunalen Flächen wächst heute ausschließlich Biogemüse, das direkt in die Schulküche und an Familien im Ort geliefert wird. Die 100 % Bio-Schulkantine ist zu einem Symbol geworden – ein Zeichen dafür, dass Nachhaltigkeit im Alltag beginnt. Laut den Betreibern wird fast alles im Umkreis von wenigen Kilometern produziert und verarbeitet.
Darüber hinaus wurden neue Blühstreifen, Insektenwiesen und Obstbaumalleen angelegt, um die Biodiversität zu fördern. Der regionale Ansatz verbindet ökologische mit sozialen Zielen: Die Landwirtschaftsflächen bieten Arbeitsplätze für junge Menschen und fördern handwerkliche Ausbildung in ökologischen Berufen.
Energieautarkie mit realistischen Grenzen
Auch wenn Ungersheim oft als „energieautark“ bezeichnet wird, zeigt ein Blick auf die Details: Die Gemeinde produziert mehr Strom, als sie selbst verbraucht – doch vollständige Unabhängigkeit gibt es nicht. Stromnetze, Lieferketten und Wartung bleiben Teil der nationalen Infrastruktur. Eine Studie aus dem Jahr 2018 hob hervor, dass es nicht nur um Selbstversorgung gehe, sondern um Resilienz: Ungersheim könne Krisen besser abfedern, weil es lokale Alternativen besitzt.
Das Dorf zeigt, dass Autarkie kein absoluter Zustand sein muss, sondern ein Prozess. Der Fokus liegt auf Reduktion von Abhängigkeiten – etwa durch lokale Energie, regionale Wirtschaft und gemeinschaftliche Entscheidungen. In dieser Hinsicht gilt Ungersheim als Modell auch für deutsche Gemeinden, die ähnliche Wege gehen, etwa Feldheim in Brandenburg oder Schönau im Schwarzwald.
Bildung, Kultur und Teilhabe
Nachhaltigkeit in Ungersheim beschränkt sich nicht auf Technik. Das Dorf betreibt Bildungszentren, organisiert Führungen für Schulklassen und Touristengruppen und arbeitet eng mit dem benachbarten Écomusée d’Alsace – einem Freilichtmuseum – zusammen. Besucher erleben dort historische Gebäude, ökologische Projekte und Workshops, die zeigen, wie moderne Nachhaltigkeit aus Tradition entstehen kann.
Schule mit Pferdekutsche
Eine der bekanntesten Szenen aus Ungersheim ist die Fahrt der Kinder zur Schule mit einer Pferdekutsche – nicht aus Nostalgie, sondern als Symbol. Sie ersetzt den Dieselbus und spart jährlich hunderte Liter Kraftstoff. Solche Gesten sind medienwirksam, aber vor allem pädagogisch: Sie zeigen Kindern früh, dass Mobilität auch sanft und gemeinschaftlich funktionieren kann.
Das soziale Fundament der Transition
Hinter den sichtbaren Projekten steht ein kultureller Wandel. Rob Hopkins, Gründer der internationalen „Transition-Town“-Bewegung, nannte Ungersheim ein Paradebeispiel: „Transition braucht Mut, Geld – und Freude“. Die Gemeinde habe gezeigt, dass nachhaltiger Wandel nicht durch Verzicht, sondern durch gemeinsames Gestalten gelingt.
Nach Angaben der französischen Umweltplattform „La Relève & La Peste“ begann Ungersheim seinen Wandel bereits vor über 20 Jahren – lange bevor Nachhaltigkeit zum politischen Trend wurde. Heute gilt der Ort als „ökologisches Modell-Dorf“ mit hoher Lebensqualität, sozialem Zusammenhalt und wachsender Artenvielfalt.
Herausforderungen bleiben
Doch selbst ein Vorzeigedorf stößt an Grenzen. Die Finanzierung neuer Projekte, der Umgang mit Zuzug oder steigenden Energiepreisen bleibt schwierig. Eine Studie des Framework for Strategic Sustainable Development zeigte 2018, dass nicht alle Ziele vollständig erreicht sind. Besonders die Balance zwischen lokaler Autonomie und nationaler Gesetzgebung stellt eine Herausforderung dar. Dennoch sind viele Ergebnisse messbar – die CO₂-Reduktion, die Energieeinsparung und die Zahl neu geschaffener Jobs gelten als Modell für nachhaltige Kommunalpolitik.
Autarke Dörfer als Zukunftsmodell
Immer mehr Gemeinden in Deutschland und Europa beobachten Ungersheim genau. Der Ort inspiriert durch sein Gesamtmodell – Energie, Ernährung, Bildung, Mobilität und soziale Teilhabe als zusammenhängendes System. Statt isolierter Klimaschutz-Maßnahmen zeigt das Dorf, wie sich Lebensqualität und Nachhaltigkeit verbinden lassen.
Ein entscheidender Faktor ist die Übertragbarkeit. Während große Städte auf zentrale Lösungen angewiesen sind, können kleine Gemeinden – ähnlich wie Ungersheim – dezentral handeln. Das senkt Kosten, stärkt lokale Identität und reduziert Abhängigkeiten. Die Frage ist also nicht mehr, ob solche Modelle funktionieren, sondern wie viele Dörfer ihnen folgen werden.
Ein Ort, der zeigt, was möglich ist
Wenn heute Besucher nach Ungersheim kommen, erwartet sie kein futuristisches Utopia, sondern ein lebendiger Beweis dafür, dass Wandel machbar ist. Zwischen Solardächern und Biogärten klingt das Wiehern der Pferde – und irgendwo läutet die Glocke der Schule, deren Kinder längst wissen: Nachhaltigkeit ist kein Unterrichtsfach, sondern ein Lebensprinzip. Ungersheim steht damit nicht nur für ein Dorf im Wandel, sondern für die leise Revolution einer ganzen Region.

































