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Urteil: Gericht erklärt Zurückweisungen von Asylsuchenden an der Grenze für rechtswidrig

In Aktuelles
Juni 02, 2025

Berlin, 02. Juni 2025, 11:30 Uhr (CCS)

Das Berliner Verwaltungsgericht hat mit einem wegweisenden Urteil am 2. Juni 2025 entschieden, dass die Zurückweisungen von Asylsuchenden an der deutschen Grenze ohne vorherige Durchführung eines Dublin-Verfahrens rechtswidrig sind. Das Urteil betrifft insbesondere Fälle, in denen Schutzsuchende bereits deutsches Staatsgebiet betreten haben und dort ein Asylgesuch äußerten. Die Entscheidung hat weitreichende politische, rechtliche und humanitäre Folgen – und sorgt für teils heftige Debatten in Politik und Gesellschaft.

Die Hintergründe des Falls

Auslöser der gerichtlichen Entscheidung war ein Fall von drei somalischen Staatsangehörigen, die am 9. Mai 2025 mit dem Zug aus Polen nach Deutschland einreisten. Am Bahnhof Frankfurt (Oder) wurde die Gruppe von der Bundespolizei kontrolliert. Nachdem sie um Asyl baten, wurden sie noch am selben Tag nach Polen zurückgeschoben – ohne ein formales Dublin-Verfahren. Gegen diese Maßnahme erhoben sie Klage und erhielten nun vor dem Verwaltungsgericht Berlin Recht.

Das Gericht stellte klar: Sobald sich Asylsuchende auf deutschem Boden befinden und ein Schutzersuchen äußern, greift der Anspruch auf Durchführung eines rechtsstaatlichen Prüfverfahrens. Eine sofortige Rückführung in einen anderen EU-Staat ist in diesem Stadium ohne Dublin-Verfahren nicht zulässig.

Rechtslage: Dublin-Verordnung und nationales Asylrecht

Zentral für das Urteil ist die sogenannte Dublin-III-Verordnung der Europäischen Union. Diese schreibt vor, dass Asylanträge grundsätzlich in dem EU-Staat geprüft werden müssen, den ein Flüchtling zuerst betreten hat. Um herauszufinden, welcher Staat zuständig ist, muss ein förmliches Verfahren eingeleitet werden – das sogenannte Dublin-Verfahren. Erst wenn dieses abgeschlossen ist und der zuständige Staat die Rücknahme akzeptiert, darf eine Überstellung erfolgen.

Gleichzeitig berief sich die Bundespolizei bei den Rückführungen auf §18 des deutschen Asylgesetzes, der bei bestehendem Einreiseverbot oder fehlenden Einreisepapieren eine Zurückweisung erlaubt. Doch laut Gericht greift diese Regelung nicht, wenn ein Asylgesuch auf deutschem Boden geäußert wird. In diesem Fall überwiegt das grundgesetzlich geschützte Asylrecht in Verbindung mit internationalen Verpflichtungen wie dem Grundsatz der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement).

Reaktionen aus Politik und Behörden

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts traf auf ein politisch aufgeladenes Klima. Die Bundesregierung unter Kanzler Friedrich Merz hatte kurz nach Amtsantritt eine härtere Linie in der Asylpolitik angekündigt. Innenminister Alexander Dobrindt hatte Anfang Mai 2025 die Bundespolizei angewiesen, Schutzsuchende an den Grenzen – insbesondere aus Polen und Tschechien – verstärkt zurückzuweisen, sofern sie keine Einreisepapiere vorlegen konnten.

Das Urteil stellt diese Strategie nun infrage. Innenminister Dobrindt äußerte sich enttäuscht über die Entscheidung, betonte jedoch, dass die Bundesregierung die rechtlichen Spielräume prüfen werde. Die Deutsche Polizeigewerkschaft kritisierte das Urteil scharf und verwies auf die Notwendigkeit funktionierender Grenzkontrollen zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit.

„Wir brauchen an den Grenzen klare Regeln und Handlungsfreiheit, um irreguläre Migration zu verhindern. Dieses Urteil schränkt uns in unserer Arbeit erheblich ein“, so ein Sprecher der DPolG.

Rechtsexperten und Menschenrechtsorganisationen begrüßen Urteil

Ganz anders fällt die Reaktion bei zivilgesellschaftlichen Gruppen und Rechtsexperten aus. Organisationen wie PRO ASYL bewerten das Urteil als dringend notwendig, um die Einhaltung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Standards sicherzustellen.

Der Grundsatz des Non-Refoulement, der im internationalen Flüchtlingsrecht verankert ist, untersagt die Rückführung von Personen in Länder, in denen ihnen Verfolgung oder unmenschliche Behandlung drohen könnte. Auch wenn Polen als EU-Staat formal ein sicheres Drittland ist, besteht laut Menschenrechtsgruppen in einigen Fällen die Gefahr, dass Asylsuchende dort keinen ausreichenden Zugang zum Verfahren erhalten oder inhaftiert werden.

Das Dublin-System auf dem Prüfstand

Das Urteil rückt erneut die Schwächen des europäischen Dublin-Systems ins Licht. Deutschland hatte im ersten Quartal 2025 rund 13.200 Übernahmeersuchen an andere EU-Staaten gestellt – doch nur etwa 1.700 Überstellungen konnten tatsächlich vollzogen werden. Der Grund: viele Länder reagieren nicht oder lehnen die Übernahme ab, während Fristen verstreichen und die betroffenen Personen weiter in Deutschland bleiben.

Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung der Dublin-Überstellungen:

QuartalÜbernahmeersuchenTatsächliche Überstellungen
Q1 202411.0001.500
Q4 202412.4001.620
Q1 202513.2001.715

Diese Zahlen machen deutlich, dass das Dublin-System trotz seines klaren rechtlichen Rahmens in der Praxis häufig an nationalen Interessen und administrativen Hürden scheitert.

Dublin-Zentren unter Beobachtung

Um das Verfahren zu beschleunigen, wurden in mehreren Bundesländern sogenannte Dublin-Zentren eingerichtet – darunter auch in Hamburg. Dort sollen Asylbewerber bis zur Klärung ihrer Zuständigkeit untergebracht werden. Doch auch hier zeigen sich Schwächen: Von den bislang 44 untergebrachten Personen wurden nur 16 tatsächlich in das zuständige EU-Land überstellt, sechs davon aus Abschiebehaft, drei reisten freiwillig aus.

Kritik an diesen Einrichtungen kommt nicht nur von Menschenrechtsorganisationen, sondern auch von Teilen der Politik. Carola Ensslen, asylpolitische Sprecherin der Linken in Hamburg, sieht in den Zentren ein Instrument der Abschreckung, das wenig zur Effizienz beitrage.

Internationale Dimension und diplomatische Folgen

Auch auf internationaler Ebene bleibt das Urteil nicht folgenlos. Die Schweiz und Österreich zeigten sich irritiert über die deutsche Praxis der Zurückweisungen. Schweizer Diplomaten kritisierten, dass diese Maßnahmen den freien Personenverkehr gefährdeten und forderten Klarheit über die rechtliche Lage. In Brüssel beobachtet die EU-Kommission die Entwicklungen mit Sorge, da die Urteilsbegründung die Einheit des europäischen Asylsystems erneut infrage stellt.

Was bedeutet das Urteil für die Praxis?

In der Konsequenz verpflichtet das Urteil deutsche Behörden dazu, bei jeder Äußerung eines Asylgesuchs ein rechtsstaatliches Verfahren einzuleiten. Auch wenn die Bundespolizei an den Grenzen weiter kontrollieren darf, muss sie Schutzsuchenden den Zugang zum Asylsystem gewähren und darf keine direkten Rückführungen mehr vornehmen, ohne ein Dublin-Verfahren eingeleitet zu haben.

Diese Neuausrichtung erfordert kurzfristige Anpassungen in den polizeilichen Abläufen und eine klare Weisungslage durch das Innenministerium. Langfristig könnte sie zu einer grundsätzlichen Reform der Asylpraxis führen.

Fazit: Zwischen Rechtsstaatlichkeit und politischer Realität

Das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts ist mehr als eine juristische Einzelentscheidung – es ist ein Weckruf für Politik und Verwaltung. Es verdeutlicht, dass menschenrechtliche Standards auch in angespannten politischen Lagen nicht zur Disposition stehen. Gleichzeitig offenbart es die strukturellen Schwächen des europäischen Dublin-Systems und die Kluft zwischen rechtlichen Vorgaben und tatsächlicher Praxis.

Wie die Bundesregierung mit diesem Urteil umgeht, wird entscheidend sein für die Glaubwürdigkeit der deutschen Asylpolitik – und für das Vertrauen in den Rechtsstaat.

Stichpunkte zum Urteil

  • Zurückweisungen ohne Dublin-Verfahren sind unzulässig.
  • Asylgesuche auf deutschem Staatsgebiet verpflichten zu Verfahren.
  • Politischer Rückschlag für die Merz-Regierung.
  • Dublin-System in der Praxis ineffizient.
  • Kritik an Dublin-Zentren und Grenzmaßnahmen wächst.
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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.