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Warum gefährliche Pestizide trotz Risiken weiterhin auf deutschen Äckern landen

In Umwelt
Juni 05, 2025
Obwohl die Gefahren vieler Pflanzenschutzmittel für Umwelt und Gesundheit seit Jahren bekannt sind, bleiben sie in Deutschland weiterhin im Einsatz. Technische Ausnahmeregelungen, veraltete Zulassungsverfahren und wirtschaftliche Interessen führen dazu, dass selbst besonders problematische Wirkstoffe nicht vom Markt verschwinden. Dieser Artikel beleuchtet die Hintergründe, benennt zentrale Akteure und zeigt auf, warum sich an der Praxis bislang kaum etwas geändert hat.

Technische Verlängerungen als Dauerlösung

Eigentlich sieht das europäische Pflanzenschutzrecht eine regelmäßige Neubewertung von Wirkstoffen vor. Doch in der Praxis wird diese Vorgabe durch sogenannte „technische Verlängerungen“ unterlaufen. Diese einst als Ausnahme gedachte Regel erlaubt es, Zulassungen auch ohne aktuelle Risikobewertung über Jahre hinweg aufrechtzuerhalten. Inzwischen sind etwa 70 Prozent der Wirkstoffe, die in der EU zum Einsatz kommen, nur aufgrund solcher Verlängerungen zugelassen.

In Deutschland ist das Bild noch drastischer: Schätzungen zufolge basieren rund 88 Prozent der verkauften Pestizidmenge auf Wirkstoffen, deren Risikobewertung veraltet ist. Die Folge: Landwirte nutzen Substanzen, deren Umweltauswirkungen heute nicht mehr den wissenschaftlichen Standards genügen würden.

Beispiele besonders kritischer Wirkstoffe

Mehrere bekannte Wirkstoffe stehen seit Jahren in der Kritik, bleiben aber dennoch im Einsatz:

  • Glyphosat: Der weltweit meistgenutzte Herbizidwirkstoff steht im Verdacht, krebserregend zu sein. Trotz eines im Koalitionsvertrag vorgesehenen Ausstiegs ist Glyphosat in Deutschland weiterhin zugelassen – gestützt auf eine zehnjährige EU-Verlängerung bis 2033.
  • Flufenacet: Führt zur Bildung des langlebigen Abbauprodukts Trifluoressigsäure (TFA), das zunehmend in Grund- und Trinkwasser auftaucht. Trotz Umweltbedenken wurde die Zulassung verlängert.
  • Chlortoluron: Als vermutlich krebserregend eingestuft, war dieser Wirkstoff jahrelang in Gebrauch, bevor er zurückgezogen wurde – nach über neun Jahren technischer Verlängerung.

Wie funktioniert das aktuelle Zulassungssystem?

In der EU ist die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ein zweistufiges Verfahren. Zunächst erfolgt die Bewertung des Wirkstoffs durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), anschließend die Zulassung einzelner Produkte durch die Mitgliedsstaaten. Kritiker bemängeln dabei gleich mehrere Schwächen:

  • Veraltete Bewertungsgrundlagen: Viele Studien, auf die sich Bewertungen stützen, stammen aus den 1990er- oder frühen 2000er-Jahren.
  • Unzureichende Bewertung kumulativer Effekte: Die kombinierte Wirkung mehrerer Mittel wird bislang kaum berücksichtigt.
  • Unterschätzte Auswirkungen auf Biodiversität: Auswirkungen auf Insekten, Vögel oder Bodenmikroben werden oft ausgeklammert.

Politik zwischen Verantwortung und Einflussnahme

Politische Akteure stehen in einem Spannungsfeld zwischen gesundheitlicher Vorsorge, Umweltverantwortung und wirtschaftlichem Druck. Die starke Agrarlobby setzt sich vehement für den Erhalt möglichst vieler Wirkstoffe ein. So wurde der geplante Glyphosat-Ausstieg trotz vorheriger Ankündigung ausgesetzt. Zudem exportiert Deutschland weiterhin Pestizide, die innerhalb der EU verboten sind – beispielsweise nach Brasilien, Indien oder in zentralafrikanische Staaten.

„Diese Doppelmoral ist nicht mehr zu rechtfertigen. Was wir hier als gefährlich einstufen, darf nicht in anderen Ländern Schaden anrichten.“ – Umweltwissenschaftlerin, anonyme Quelle

Die unsichtbare Gefahr im Wasser

Eine der größten Gefahren ist unsichtbar: Rückstände von Pestiziden und ihren Abbauprodukten tauchen zunehmend im Grundwasser und in Oberflächengewässern auf. Besonders bedenklich ist Trifluoressigsäure (TFA), ein extrem langlebiges Molekül, das aus mehreren Fluorverbindungen hervorgeht. TFA ist kaum biologisch abbaubar, wird nicht von Kläranlagen gefiltert und reichert sich in der Umwelt an. Mittlerweile wird es in fast allen deutschen Fließgewässern nachgewiesen.

Diese Entwicklung stellt nicht nur ein Risiko für die Umwelt dar, sondern auch für die Trinkwasserversorgung – insbesondere in Regionen mit flacher Grundwasserführung.

Gesundheitsgefahren durch Pestizide

Der Zusammenhang zwischen Pestiziden und gesundheitlichen Problemen ist Gegenstand zahlreicher Studien. Besonders gravierend ist der Verdacht, dass bestimmte Wirkstoffe neurologische Erkrankungen wie Parkinson begünstigen. Untersuchungen zeigen ein bis zu 36 % höheres Erkrankungsrisiko bei hoher Exposition gegenüber bestimmten Substanzen.

Auch Leukämie im Kindesalter, hormonelle Störungen und Fruchtbarkeitsprobleme werden mit dem Kontakt zu Pestiziden in Verbindung gebracht. Rückstände finden sich regelmäßig in Obst, Gemüse und sogar in Getreideprodukten.

Internationale Aspekte: Pestizide als globales Problem

Viele in der EU verbotene Pestizide werden weiterhin in andere Länder exportiert. Dort gelangen sie unter weniger strengen Auflagen auf Felder – und kehren als Rückstände über Lebensmittelimporte in die EU zurück. Dieser sogenannte „Pestizidboomerang“ betrifft beispielsweise Bananen, Kaffee oder Reis. Menschenrechts- und Umweltorganisationen fordern ein EU-weites Exportverbot für gefährliche Substanzen.

Tabellarischer Überblick: Problematik im Vergleich

WirkstoffRisikoStatusBesonderheit
GlyphosatKrebserregend, biodiversitätsfeindlichVerlängert bis 2033Weltweit am häufigsten verwendet
FlufenacetTFA-Bildung, umweltpersistentZulassung verlängertTFA im Trinkwasser nachweisbar
ChlortoluronVermutlich krebserregendInzwischen verbotenWurde über 9 Jahre verlängert

Kritik an der EFSA

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) steht zunehmend in der Kritik. Ein erheblicher Teil der EFSA-Experten hat Verbindungen zu Unternehmen der Agrar- und Chemiebranche. Obwohl diese Interessenkonflikte formal angegeben werden, bleibt unklar, wie unabhängig die Bewertung neuer oder bestehender Wirkstoffe tatsächlich ist.

Innovative Ansätze als Hoffnungsträger

Um dem Dilemma zu entkommen, werden Alternativen zur chemischen Schädlingsbekämpfung erforscht:

RNAi-Sprays

RNA-Interferenz nutzt genetisch abgestimmte RNA-Moleküle, um gezielt die Genexpression bestimmter Schädlinge zu unterdrücken. Diese Technologie verspricht eine punktgenaue Wirkung ohne Kollateralschäden an Nichtzielorganismen.

Push-Pull-Systeme

Durch geschickte Kombination von Lock- und Abschreckpflanzen werden Schädlinge vom Hauptfeld ferngehalten. Diese Methode ist besonders in Afrika bereits erfolgreich im Einsatz.

Sterile-Insekten-Technik

Hierbei werden große Mengen steriler Männchen freigesetzt, wodurch die Reproduktionsrate ganzer Schädlingspopulationen drastisch sinkt – ohne den Einsatz von Chemikalien.

Was jetzt getan werden muss

Angesichts der Bedrohungen für Umwelt und Gesundheit fordern Experten und Umweltverbände grundlegende Reformen:

  • Abschaffung technischer Verlängerungen und verbindliche Fristen für Risikobewertungen
  • Verbot von besonders gefährlichen Wirkstoffen
  • Stärkere Kontrolle und Offenlegung von Interessenkonflikten bei Zulassungsbehörden
  • Förderung nicht-chemischer Alternativen in der Landwirtschaft
  • Exportverbot für in der EU nicht zugelassene Pestizide

Die Verwendung problematischer Pflanzenschutzmittel in Deutschland ist kein bloßes Versäumnis, sondern das Ergebnis eines strukturellen Versagens von Politik, Behörden und Wirtschaft. Solange wirtschaftliche Interessen über Umwelt- und Gesundheitsschutz gestellt werden, bleibt die Belastung durch Pestizide bestehen. Die Lösung liegt in mehr Transparenz, klaren politischen Vorgaben und dem konsequenten Einsatz alternativer Methoden.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.