Berlin, 06. Juni 2025, 10:30 Uhr
Die sicherheitspolitische Lage in Europa hat sich in den vergangenen Jahren grundlegend verändert. Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Jahr 2022 beobachten deutsche Sicherheitsbehörden eine neue Realität – eine, in der auch Deutschland wieder mit direkten militärischen Bedrohungen rechnen muss. In Reaktion auf diese Entwicklung treibt die Bundesregierung Maßnahmen zur Stärkung des zivilen Bevölkerungsschutzes energisch voran. Schutzräume, Warnsysteme, medizinische Infrastruktur und Kooperationen mit der Bundeswehr werden umfassend überarbeitet. Doch Experten warnen: Der Nachholbedarf ist groß.
Schutzräume: Alte Konzepte, neue Lösungen
Deutschland verfügte zu Zeiten des Kalten Krieges über rund 2.000 öffentliche Schutzräume. Davon sind heute nur noch wenige nutzbar. Der Rückbau begann nach der Wiedervereinigung – unter dem Eindruck einer scheinbar stabilen geopolitischen Lage. Nun, im Angesicht wachsender Bedrohungen, hat das Bundesinnenministerium Pläne für sogenannte „Notstädte“ angekündigt. Diese sollen jeweils Platz für bis zu 5.000 Menschen bieten und in Krisensituationen Schutz bieten.
Parallel dazu wird geprüft, wie bestehende Infrastrukturen wie Tiefgaragen, U-Bahn-Schächte oder Kellerräume in Schutzräume umgewandelt werden können. Eine App zur Lokalisierung des nächstgelegenen Schutzortes ist in Entwicklung. Dennoch bleibt das aktuelle Angebot weit hinter dem Bedarf zurück: Derzeit könnten nur etwa 480.000 Menschen in staatlichen Schutzräumen untergebracht werden – weniger als ein halbes Prozent der Bevölkerung.
Warnsysteme im Wandel: MoWaS und das Comeback der Sirenen
Ein funktionierendes Warnsystem ist im Ernstfall überlebenswichtig. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) betreibt mit dem Modularen Warnsystem (MoWaS) eine zentrale Plattform, über die Warnmeldungen an verschiedenste Kanäle gesendet werden: Radio, Fernsehen, Onlineportale, Stadtinformationstafeln und Warn-Apps wie NINA oder KATWARN. Zusätzlich kommt seit 2023 Cell Broadcast zum Einsatz – ein Mobilfunk-basiertes Warnverfahren.
Viele Regionen jedoch verfügen über keine funktionstüchtigen Sirenennetze mehr. Der Rückbau dieser klassischen Warnmittel in den 1990er- und 2000er-Jahren zeigt heute gravierende Folgen. Erste Kommunen wie Düsseldorf und Dresden haben bereits mit dem Wiederaufbau begonnen. Die Bundesregierung stellt Mittel zur Verfügung, um ein flächendeckendes Sirenennetz bis 2030 wiederherzustellen.
Gesundheitssystem unzureichend vorbereitet
Eine der größten Schwächen in der zivilen Verteidigung offenbart sich im Bereich der medizinischen Versorgung. Laut Fachleuten fehlen deutschlandweit belastbare Notfallpläne für den Kriegs- oder Katastrophenfall. Viele Krankenhäuser verfügen über keine ausreichenden Vorräte an Medikamenten oder Blutkonserven, und es mangelt an geschultem medizinischen Personal für Extremsituationen.
Die Bayerische Gesundheitsministerin forderte jüngst ein bundesweites Programm zur besseren Vorbereitung der Kliniken. Auch das BBK hat begonnen, Bundesländer mit zusätzlichem Sanitätsmaterial zu versorgen, um deren Reaktionsfähigkeit im Ernstfall zu verbessern.
Finanzierungsbedarf: Milliardenlücke im Bevölkerungsschutz
Ein internes Papier des Bundesinnenministeriums beziffert den Investitionsbedarf zur Wiederherstellung eines funktionsfähigen Zivilschutzsystems auf rund 30 Milliarden Euro. Enthalten sind Kosten für Schutzräume, Warnsysteme, medizinische Versorgung, Ausbildung und logistische Infrastruktur. Bislang wurden nur Teilmittel bereitgestellt.
„Die Zeitenwende ist im Bevölkerungsschutz bisher kaum angekommen.“ – Christian Reuter, Generalsekretär des Deutschen Roten Kreuzes
Das DRK fordert neben strukturellen Investitionen auch mehr Personal. Derzeit fehlen demnach mindestens 10.000 hauptamtliche und ehrenamtliche Kräfte im Katastrophenschutz.
Operationsplan Deutschland: Zivile und militärische Zusammenarbeit
Im Fokus der strategischen Neuausrichtung steht der „Operationsplan Deutschland“ (OPLAN DEU). Dieser Plan definiert erstmals die enge Verzahnung militärischer und ziviler Strukturen im Verteidigungsfall. Koordiniert wird dies vom Territorialen Führungskommando der Bundeswehr, das auch im Katastrophenfall operative Führung übernehmen soll.
Das Konzept sieht u. a. die Koordination von bis zu 800.000 NATO-Soldaten auf deutschem Boden vor. Darüber hinaus werden logistische Drehkreuze, Schienennetze, Energieversorgung und Kommunikationslinien als sicherheitskritische Infrastrukturen neu bewertet. Zivile Behörden sollen künftig routinemäßig mit militärischen Stellen zusammenarbeiten.
Internationale Aspekte und NATO-Verpflichtungen
Im Zuge neuer NATO-Strategien muss Deutschland sein militärisches Engagement verstärken. Bis 2029 sollen bis zu 60.000 zusätzliche Soldaten rekrutiert und weitere Brigaden für das Bündnis bereitgestellt werden. Diese militärische Aufstockung wirkt sich auch auf den zivilen Sektor aus: Der Transport, die Verpflegung und medizinische Versorgung dieser Kräfte im Inland muss gewährleistet sein – Aufgaben, die teilweise dem Katastrophenschutz zufallen.
Bevölkerung als Teil der Verteidigungsstrategie
Der Zivilschutz lebt auch vom Mitwirken der Bevölkerung. Das BBK appelliert seit Jahren an Bürgerinnen und Bürger, sich auf den Ernstfall vorzubereiten. Zentrale Empfehlungen sind:
- Ein Vorrat an Lebensmitteln und Wasser für zehn Tage
- Ein gepackter Notfallrucksack mit Dokumenten, Medikamenten und Hygieneartikeln
- Installation und Nutzung von Warn-Apps wie NINA
- Kenntnis über Warntöne und Verhalten im Alarmfall
Neu ist die Initiative, Katastrophenwissen in Schulen zu vermitteln. Das Bundesinnenministerium arbeitet an einem Lehrplan, der Kinder und Jugendliche auf Krisensituationen vorbereitet – inklusive Erster Hilfe, Evakuierungsübungen und Krisenkommunikation.
Zunahme privater Initiativen: Bunker und Selbstschutz
Die öffentliche Diskussion und mediale Berichterstattung über mögliche Kriegsgefahren hat auch zu einer Welle privater Schutzmaßnahmen geführt. Unternehmen, die unterirdische Bunker oder verstärkte Schutzräume bauen, berichten von einem sprunghaften Anstieg der Anfragen. Besonders in Süddeutschland und Ballungszentren investieren wohlhabende Privatpersonen zunehmend in individuelle Sicherheitslösungen.
Gleichzeitig sichtbar: Defizite im System
So ambitioniert die Pläne der Regierung auch sind – es mangelt weiterhin an Koordination, Transparenz und Geschwindigkeit. Ein Beispiel: Viele Städte wissen aktuell noch nicht, wie viele ihrer Tiefgaragen tatsächlich als Schutzräume geeignet wären. Zudem fehlt vielerorts das Fachpersonal, um Evaluierungen und Umbauten zeitnah umzusetzen.
Bereich | Aktueller Zustand | Geplanter Ausbau |
---|---|---|
Öffentliche Schutzräume | ca. 480.000 Plätze | + Notstädte mit Kapazitäten für bis zu 5 Mio. Menschen |
Sirenennetz | lückenhaft, regional begrenzt | flächendeckender Wiederaufbau bis 2030 |
Medizinische Notfallversorgung | unzureichend vorbereitet | Programme für Krankenhaus-Ausstattung & Personalaufbau |
Notfallpläne für Bevölkerung | oft veraltet oder nicht vorhanden | digitale Tools, Schulbildung, lokale Trainings |
Zeitenwende braucht Umsetzung
Deutschland steht am Anfang eines tiefgreifenden Transformationsprozesses im Bereich des Katastrophenschutzes. Die politische Erkenntnis über neue Bedrohungen ist vorhanden, die Strategien liegen in ersten Entwürfen vor. Doch ihre Umsetzung erfordert Milliardeninvestitionen, gesellschaftliche Teilhabe und Zeit.
Ob Deutschland im Ernstfall vorbereitet ist, hängt nicht nur von der Bundesregierung ab, sondern auch vom Engagement der Länder, Kommunen und der Bevölkerung selbst. Die Verteidigung der Heimat ist heute nicht mehr nur militärische Aufgabe – sie ist ein gesamtgesellschaftliches Projekt.