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Chronisch Kranke im Fokus: Warum die neue Facharzt-Gebühr unfair sein könnte

In Aktuelles
September 20, 2025

Die Debatte um eine mögliche Facharzt-Gebühr sorgt für hitzige Diskussionen in Politik, Gesellschaft und Gesundheitswesen. Während Befürworter von Einsparungen und effizienteren Abläufen sprechen, warnen Sozialverbände vor erheblichen Belastungen für chronisch Kranke und einkommensschwache Patienten. Besonders die Frage nach fairen Ausnahmen rückt dabei in den Mittelpunkt.

Der Hintergrund: Warum die Facharzt-Gebühr diskutiert wird

Seit Monaten wird in Deutschland über eine sogenannte Facharzt-Gebühr debattiert. Arbeitgeberverbände und Teile der Politik argumentieren, dass die gesetzlichen Krankenkassen angesichts milliardenschwerer Defizite neue Steuerungsinstrumente benötigen. Mit einer Gebühr für den direkten Facharztbesuch – ohne vorherige Überweisung – soll das sogenannte „Ärzte-Hopping“ reduziert und die Versorgung zielgerichteter gesteuert werden.

Die Idee knüpft an die Praxisgebühr an, die zwischen 2004 und 2012 eingeführt war. Sie sollte Patienten erziehen, nicht unnötig oft Ärzte aufzusuchen. Doch die Bilanz fiel ernüchternd aus: Der bürokratische Aufwand war hoch, die Steuerungswirkung gering, und gerade sozial schwächere Gruppen litten unter der zusätzlichen Belastung.

Das geplante Primärarztsystem

Erst zum Hausarzt, dann zum Facharzt

Kern der aktuellen Diskussion ist ein Primärarztsystem, das vorsieht, dass Patientinnen und Patienten grundsätzlich zuerst ihren Haus- oder Kinderarzt aufsuchen müssen. Erst nach einer Überweisung soll der Besuch bei einem Facharzt erfolgen. Wer sich dem entzieht, könnte mit einer Facharzt-Gebühr oder erhöhten Selbstbeteiligungen belastet werden.

Ausnahmen für bestimmte Fachrichtungen

Politisch werden Ausnahmen für Gynäkologie und Augenheilkunde diskutiert. Diese Fachrichtungen gelten als essenziell und niedrigschwellig zugänglich, weshalb Patientinnen und Patienten hier weiterhin direkt Termine wahrnehmen dürften. Für andere Fachrichtungen soll die Steuerung strenger gehandhabt werden.

Sonderregelungen für chronisch Kranke

Ein zentraler Streitpunkt ist die Frage: Müssen chronisch Kranke eine Facharzt-Gebühr zahlen, wenn sie ohne Überweisung zum Facharzt gehen? Bisher zeichnet sich ab, dass chronisch Kranke explizit von der Gebühr ausgenommen werden sollen. Schließlich haben sie häufig regelmäßige Facharzttermine, die sich nicht immer über einen Hausarzt steuern lassen. Politiker und Verbände betonen, dass diese Patientengruppe besonders geschützt werden müsse.

Die Perspektive der chronisch Kranken

Wer gilt als chronisch krank?

Nach der Chroniker-Richtlinie gilt eine Person als chronisch krank, wenn sie seit mindestens einem Jahr wegen derselben Erkrankung in ärztlicher Dauerbehandlung ist. Zudem müssen weitere Kriterien wie Pflegebedürftigkeit, ein hoher Behinderungsgrad oder die Notwendigkeit kontinuierlicher Versorgung vorliegen. Diese Definition wäre entscheidend, um festzulegen, wer von einer möglichen Facharzt-Gebühr befreit wäre.

Statistik: Wie viele sind betroffen?

Laut aktuellen Daten geben rund 53,7 Prozent der Erwachsenen in Deutschland an, eine chronische Krankheit oder ein lang andauerndes Gesundheitsproblem zu haben. Damit betrifft die Debatte über Facharzt-Gebühren mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Besonders Frauen (57 Prozent) sind häufiger betroffen als Männer (50 Prozent). Ein erheblicher Teil der Gesellschaft könnte also durch Fehlregelungen benachteiligt werden.

Soziale Schieflage als Gefahr

Sozialverbände warnen, dass Menschen mit wenig Einkommen besonders gefährdet wären. Bereits bei der früheren Praxisgebühr zeigten sich negative Effekte: Viele verzichteten aus Kostengründen auf Arztbesuche, was später teurere Behandlungen erforderlich machte. Ein ähnliches Szenario droht nun erneut. „Kontaktgebühren sind unsolidarisch und belasten gerade die Schwächsten“, kritisiert etwa der Sozialverband Deutschland.

Die Rolle der Hausärzte

Hausärzte als Lotsen

Ein zentraler Pfeiler des geplanten Primärarztsystems ist die Stärkung der Hausärzte. Sie sollen die Rolle von Lotsen übernehmen, die Patientinnen und Patienten durch das Gesundheitssystem führen. Studien aus anderen Ländern zeigen, dass Gatekeeping-Modelle durchaus effizient sein können: Sie reduzieren unnötige Facharztkontakte und sorgen für eine zielgerichtete Versorgung.

Kritik an der Belastung der Hausärzte

Hausärzte warnen jedoch, dass eine zusätzliche Steuerungsrolle ohne Ausbau der Infrastruktur zu Überlastung führen könnte. Bereits heute sind Wartezeiten in vielen Regionen lang, und die hausärztliche Versorgung steht unter Druck. „Ein gutes System braucht eine ausreichende Zahl an Hausärzten und funktionierende Netze“, heißt es aus ärztlichen Verbänden.

Die Erfahrungen mit der Praxisgebühr

Ein teurer Flop?

Die Praxisgebühr von 2004 bis 2012 sollte eine ähnliche Steuerungsfunktion erfüllen. Doch die Auswertung zeigte: Die erhofften Einsparungen blieben aus, die Bürokratie nahm zu, und viele Patientinnen und Patienten fühlten sich überfordert. Gerade Menschen mit niedrigem Einkommen verschoben notwendige Arztbesuche, was gesundheitliche Nachteile nach sich zog.

Lehren für die neue Facharzt-Gebühr

Die wichtigste Lehre: Eine Gebühr allein steuert nicht nachhaltig. Es braucht flankierende Maßnahmen wie bessere Terminvergabe, weniger Bürokratie und gezielte Ausnahmeregelungen. Ohne diese droht die Wiederholung alter Fehler.

Finanzielle Auswirkungen und Modelle zur Entlastung

Sozial abgefederte Modelle

In der Diskussion stehen verschiedene Modelle, um die Facharzt-Gebühr sozial abzufedern:

  • Ausnahmen für chronisch Kranke
  • Belastungsgrenzen, die an das Einkommen gekoppelt sind
  • Befreiungsmöglichkeiten nach Überschreiten bestimmter Eigenanteile
  • Tarife, bei denen nur direkte Facharztbesuche ohne Überweisung Kosten auslösen

Zuzahlungsbefreiung für chronisch Kranke

Chronisch Kranke haben heute schon niedrigere Belastungsgrenzen bei Zuzahlungen. Während die allgemeine Grenze bei 2 Prozent des Einkommens liegt, gilt für diese Patientengruppe 1 Prozent. Überschreiten sie diesen Wert, können sie sich für den Rest des Jahres befreien lassen. Diese Regelung könnte auch für eine mögliche Facharzt-Gebühr greifen.

Die politische Dimension

Unterschiedliche Positionen

Union und SPD treiben das Primärarztsystem voran. Die Grünen unterstützen zwar eine stärkere Steuerung, lehnen aber Strafzahlungen ab, da sie eine „Zwei-Klassen-Medizin“ befürchten. AfD und Linke kritisieren die Einschränkungen grundsätzlich und warnen vor verspäteter Versorgung. Die Bundesärztekammer befürwortet die Steuerung, möchte Ärzte jedoch nicht als Gebührentreiber sehen.

Die Rolle der Arbeitgeber

Arbeitgeberverbände argumentieren, dass die Facharzt-Gebühr notwendig sei, um unnötige Fehlzeiten und Kosten zu reduzieren. Patientenschützer halten dagegen: Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen, dass die erhoffte Steuerung kaum eintritt und stattdessen Ungerechtigkeiten wachsen.

Patientenstimmen aus Foren und sozialen Medien

Ängste und Widerstände

In Online-Foren berichten Patienten, dass sie sich durch Hausarztprogramme unter Druck gesetzt fühlen. Manche sehen darin eine Einschränkung ihrer freien Arztwahl. Besonders chronisch Kranke äußern die Sorge, dass ihre regelmäßigen Facharzttermine durch Gebühren erschwert oder verteuert werden könnten.

Probleme mit der Verfügbarkeit

Viele Nutzer kritisieren zudem, dass Hausärzte in einigen Regionen schwer zu finden sind oder lange Wartezeiten haben. Wenn der Zugang zum Facharzt künftig nur über den Hausarzt möglich ist, droht sich dieses Problem noch zu verschärfen.

Zentrale Fragen aus Sicht der Patienten

Wie könnten sich Facharzt-Gebühren auf Menschen mit niedrigem Einkommen auswirken?

Die Gefahr besteht, dass ärztliche Hilfe seltener in Anspruch genommen wird. Wer ohnehin wenig Geld hat, wird Arztbesuche möglicherweise aufschieben. Das kann akute Krankheiten verschlimmern und langfristig zu höheren Folgekosten führen.

Wie haben sich frühere Praxisgebühren auf Arztkontakte ausgewirkt?

Die Praxisgebühr reduzierte zwar manche Bagatellfälle, führte aber auch dazu, dass notwendige Arztkontakte vermieden wurden. Chronisch Kranke waren oft gezwungen, trotzdem regelmäßig zu zahlen, da sie kontinuierlich in Behandlung bleiben mussten.

Wie würde das vorgeschlagene Primärarzt-System mit Facharzt-Gebühren funktionieren?

Das Modell sieht eine Art „Lotsensystem“ vor. Patienten gehen zuerst zum Hausarzt, dieser verweist bei Bedarf weiter zum Facharzt. Ohne Überweisung könnten Gebühren anfallen – mit Ausnahme bestimmter Patientengruppen wie chronisch Kranken.

Ein Blick nach vorne

Die Debatte um die Facharzt-Gebühr ist längst mehr als ein reines Finanzthema. Sie berührt Grundfragen von Solidarität, Gerechtigkeit und Effizienz im deutschen Gesundheitssystem. Während die Politik versucht, die Kostenexplosion einzudämmen, wächst die Sorge, dass Millionen chronisch Kranke benachteiligt werden könnten. Gleichzeitig besteht die Chance, durch eine kluge Steuerung Wartezeiten zu verkürzen und Ressourcen effizienter einzusetzen.

Ob das Primärarztsystem mit einer Facharzt-Gebühr am Ende eingeführt wird, ist noch offen. Klar ist jedoch: Ohne klare Ausnahmen, soziale Abfederungen und eine Stärkung der hausärztlichen Versorgung droht das Projekt zu scheitern. Die Erfahrungen mit der Praxisgebühr mahnen zur Vorsicht – und die Stimmen chronisch Kranker mahnen zur Rücksicht. Das Gesundheitssystem steht an einem Scheideweg, an dem über Fairness, Solidarität und Zukunftsfähigkeit entschieden wird.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.