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Ist in Niedersachsen heute wegen anhaltender Hitze am 1.Juli Hitzefrei?

In Aktuelles
Juli 01, 2025
Hitzefrei Niedersachsen
Die Temperaturen steigen, die Klassenzimmer werden zur Sauna und die Diskussion um Hitzefrei flammt wieder auf. Mit einer neuen Regelung des Kultusministeriums rückt auch die Oberstufe in den Fokus. Doch was bedeutet das konkret für den Schulalltag in Niedersachsen?

Hitzefrei – mehr als nur eine Kinderfreude?

Lange Zeit galt Hitzefrei in deutschen Schulen als informelles Ritual an besonders heißen Tagen – zumindest in den unteren Klassen. Doch angesichts immer häufigerer Hitzewellen durch den Klimawandel wird der Ruf nach verlässlichen und fairen Regelungen immer lauter. In Niedersachsen hat das Kultusministerium nun einen entscheidenden Schritt gewagt und die Regeln aktualisiert: Ab sofort können auch Oberstufen-Schülerinnen und -Schüler von Hitzefrei profitieren. Doch die Umsetzung ist komplexer, als es auf den ersten Blick scheint.

Die neue Regelung auf einen Blick

Seit dem 27. Juni 2025 dürfen auch Schulen der Sekundarstufe II Hitzefrei gewähren. Diese Entscheidung liegt jedoch nicht zentral beim Ministerium, sondern bei den jeweiligen Schulleitungen. Maßgeblich ist dabei nicht die Außentemperatur, sondern die reale Belastung im Klassenzimmer – sprich: die Raumtemperatur und die Möglichkeit, unter den gegebenen Bedingungen noch sinnvoll zu unterrichten.

Es handelt sich um eine Flexibilisierung, die vor allem auf Forderungen aus Schülerkreisen und der Lehrerschaft zurückgeht. Doch was nach einem Fortschritt klingt, offenbart im Detail neue Herausforderungen – organisatorisch, pädagogisch und infrastrukturell.

Wie wird Hitzefrei in der Praxis entschieden?

Eine zentrale Temperaturgrenze gibt es in Niedersachsen bewusst nicht. Stattdessen soll die Schulleitung anhand der individuellen Situation entscheiden: Wie heiß ist es tatsächlich in den Räumen? Gibt es Ausweichmöglichkeiten wie schattige Außenflächen oder kühle Gruppenräume? Können Maßnahmen wie Stoßlüften, verkürzte Stunden oder eine Trinkpausenregelung den Unterricht retten?

Maßnahmen vor dem Hitzefrei

  • Intensives Lüften in den frühen Morgenstunden
  • Verlagerung des Unterrichts in kühlere Räume oder ins Freie
  • Verkürzte Unterrichtseinheiten
  • Ausreichende Wasserversorgung für die Schüler
  • Verzicht auf schriftliche Leistungsüberprüfungen bei starker Hitze

Schülerstimmen: „Gleichbehandlung ist überfällig“

Besonders laut wurde der Ruf nach Änderung von Seiten des Landesschülerrats. In einem offenen Schreiben hieß es bereits 2024: „Das Fehlen einer einheitlichen Regelung gefährdet nicht nur die Chancengleichheit, sondern auch die Gesundheit und Lernfähigkeit.“ Viele Oberstufenschüler empfanden es als ungerecht, dass ihre jüngeren Mitschüler früher nach Hause durften, während sie selbst in überhitzten Räumen weiter unterrichtet wurden.

Tatsächlich zeigt ein Blick in Schülerforen: Für viele bedeutet Hitzefrei in der Oberstufe nicht Unterrichtsausfall, sondern lediglich das Wegfallen von Nachmittagsstunden. Einige Gymnasien versuchen, dies durch flexible Gleitzeitmodelle und verkürzte Stunden zu kompensieren.

Lehrkräfte zwischen Verantwortung und Realität

Für Lehrerinnen und Lehrer bringt die neue Regelung neben Erleichterung auch neue Belastungen. In Lehrerforen wird diskutiert, wie schwierig es sei, kurzfristig den Stundenplan umzustellen, Eltern zu informieren und dennoch den Bildungsauftrag zu erfüllen. In Ganztagsschulen mit fester Betreuungspflicht ist Hitzefrei zudem kaum realisierbar.

Besonders problematisch: In vielen Schulen fehlen sogar die einfachsten Voraussetzungen, um auf Hitze zu reagieren. Ventilatoren sind in manchen Gebäuden aus Sicherheitsgründen verboten, mobile Klimaanlagen aus Kostengründen nicht erlaubt, und die Raumarchitektur neuer Schulbauten – etwa große Fensterfronten ohne Verschattungsmöglichkeit – verstärkt das Problem zusätzlich.

Ein Lehrer berichtet:

„Wir durften nicht einmal einen Ventilator aufstellen, weil der Luftstrom angeblich zu gefährlich sei. Gleichzeitig sind die Fenster nur kippbar, und wir sitzen hier bei 32 Grad – das ist kein Lernen mehr, das ist Überleben.“

Technische Infrastruktur: Fehlanzeige

Die Schulrealität in Niedersachsen ist häufig geprägt von einem Mangel an klimatischen Ausgleichsmöglichkeiten. Klassenzimmer verfügen oft über keine Jalousien, Lüftungsanlagen sind veraltet oder gar nicht vorhanden, und digitale Unterrichtsalternativen wie Home-Schooling sind bei Hitzefrei keine offizielle Option – zumindest noch nicht.

Temperatur ist nicht alles

Experten betonen: Hitzeempfinden hängt nicht nur von der Lufttemperatur ab. Auch Luftfeuchtigkeit, Luftzirkulation und Sonneneinstrahlung spielen eine zentrale Rolle. Ein Raum mit 28 °C bei stehender Luft und hoher Luftfeuchtigkeit kann deutlich belastender wirken als ein trockener, gut belüfteter Raum bei 30 °C.

FaktorEinfluss auf Hitzebelastung
Lufttemperaturdirekter Wärmefaktor
Luftfeuchtigkeitverhindert effektives Schwitzen
Luftbewegungerhöht subjektives Wohlbefinden deutlich
Sonneneinstrahlungkann Raumtemperatur massiv erhöhen

Der bundesweite Vergleich

Im Vergleich zu anderen Bundesländern sticht Niedersachsen nun mit einer der offensten Regelungen hervor. Während in NRW Hitzefrei ab einer Raumtemperatur von 27 °C greift und Baden-Württemberg die Außentemperatur um 11 Uhr als Kriterium heranzieht, betont Niedersachsen bewusst den pädagogischen Handlungsspielraum der Schulleitungen.

Einziger Vorreiter bislang: Mecklenburg-Vorpommern, wo Oberstufenschüler bereits seit Längerem unter bestimmten Bedingungen Hitzefrei erhalten können. In anderen Ländern beschränkt sich Hitzefrei häufig noch auf Klassenstufen bis 10.

Eltern und Betreuung: Ein unterschätztes Problem

Hitzefrei bedeutet nicht nur: Kinder kommen früher nach Hause. In vielen Familien kollidiert dies mit der Berufstätigkeit der Eltern. Gerade im Ganztagsschulmodell ist die Erwartung an verlässliche Betreuung hoch. Fällt diese kurzfristig weg, stehen Eltern oft vor organisatorischen Problemen. Auch aus dieser Perspektive wird verständlich, warum manche Schulleitungen mit der Entscheidung zögern.

Forderungen und Zukunftsperspektiven

Verbände wie die GEW oder der Verband Bildung und Erziehung (VBE) fordern seit Langem bundeseinheitliche Standards. Sie empfehlen Richtwerte zwischen 21 °C und 25 °C für effektives Lernen und plädieren für klar kommunizierte Eskalationsstufen im Schulalltag – von gelockerten Prüfungsanforderungen bis hin zu flexiblem Online-Unterricht.

Auch Schülervertretungen schlagen neue Wege vor. So wurde von mehreren Gremien vorgeschlagen, bei Hitzewellen auf Distanzunterricht auszuweichen – eine Praxis, die während der Pandemie erfolgreich eingeübt wurde.

Ein Schritt nach vorn, aber nicht das Ziel

Die Entscheidung, Hitzefrei nun auch für Oberstufenschülerinnen und -schüler zu ermöglichen, ist ein längst überfälliger Schritt in die richtige Richtung. Doch er zeigt auch, wie viele Baustellen im Bildungssystem bestehen – von baulicher Ausstattung über pädagogische Konzepte bis hin zur Einbindung von Eltern und Schülern in Entscheidungsprozesse.

Hitzefrei darf nicht zum Zufallsprodukt werden. Es braucht klare, faire und praktikable Lösungen, die sowohl dem Gesundheitsschutz als auch dem Bildungsauftrag gerecht werden. Nur so kann Schule in Zeiten des Klimawandels weiterhin ein Ort des Lernens bleiben – und nicht zur Hitzefalle werden.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.