
Berlin, 06. Juni 2025, 22:30 Uhr
Die Debatte über eine Rückkehr zur Wehrpflicht in Deutschland ist in vollem Gange. Mit Henning Otte, dem neuen Wehrbeauftragten des Bundestages, bezieht erstmals wieder eine politische Schlüsselperson klar Stellung für einen verpflichtenden Wehrdienst – und das in einer sicherheitspolitisch angespannten Zeit. Die Bundeswehr kämpft mit Nachwuchssorgen, die NATO stellt höhere Anforderungen und in der Gesellschaft wächst die Diskussion um Pflicht, Verantwortung und Freiheit. Droht also bald ein verpflichtender Dienst an der Waffe für junge Deutsche?
Die Lage der Bundeswehr: Zwischen Zielvorgaben und Realität
Die Bundeswehr steht unter Druck. Die von Verteidigungsminister Boris Pistorius angestrebte Truppenstärke von rund 203.000 Soldatinnen und Soldaten liegt aktuell in weiter Ferne. Derzeit zählt die Truppe nur etwa 182.000 aktive Kräfte. Gleichzeitig fordert die NATO von ihren Mitgliedsstaaten, ihre Verteidigungsfähigkeit massiv zu stärken – insbesondere angesichts der sicherheitspolitischen Lage in Osteuropa und dem anhaltenden russischen Angriffskrieg in der Ukraine.
Deutschland hat sich im Rahmen seiner NATO-Verpflichtungen verpflichtet, bis 2029 einsatzbereite Großverbände bereitzustellen. Das bedeutet: mehr Personal, mehr Ausrüstung, mehr Verpflichtung. Doch der freiwillige Dienst allein scheint dafür nicht auszureichen. Aus diesem Grund bringt Henning Otte eine Option auf den Tisch, die lange Zeit politisch als abgehakt galt: den verpflichtenden Wehrdienst.
Henning Otte: Ein Wehrbeauftragter mit klarer Haltung
Henning Otte (CDU), seit Mai 2025 im Amt, machte bereits bei seiner Vereidigung deutlich, dass er die aktuelle Entwicklung kritisch sieht. Er warnte davor, ausschließlich auf Freiwilligkeit zu setzen und forderte, sich rechtzeitig auf ein mögliches Scheitern dieses Modells vorzubereiten. Sollte sich das geplante freiwillige Wehrdienstmodell – das ab Anfang 2026 starten soll – nicht als tragfähig erweisen, müsse ein verpflichtender Dienst in Betracht gezogen werden.
„Wenn die Freiwilligkeit nicht trägt, brauchen wir ein verpflichtendes Modell – auch an der Waffe.“
– Henning Otte
Otte sieht in der allgemeinen Wehrpflicht nicht nur eine sicherheitspolitische Maßnahme, sondern auch einen Beitrag zur gesellschaftlichen Resilienz. Viele Unterstützer seiner Position argumentieren, dass die Bundeswehr als Parlamentsarmee auf eine breite gesellschaftliche Verankerung angewiesen sei.
Freiwillig oder verpflichtend? Die geplante Reform
Die Bundesregierung plant, ein neues Wehrdienstmodell auf freiwilliger Basis einzuführen. Ziel ist es, jährlich rund 5.000 junge Menschen für den Dienst in der Bundeswehr zu gewinnen. Dieses Modell soll attraktiver gestaltet werden als bisherige Varianten – mit besseren Vergütungen, mehr gesellschaftlicher Anerkennung und flexibleren Einsatzmöglichkeiten. Doch Kritiker bezweifeln, dass damit der tatsächliche Bedarf gedeckt werden kann.
In der Bundeswehr gehen jährlich mehr junge Rekrutinnen und Rekruten als geplant wieder – die Abbruchquote in den ersten sechs Monaten liegt teilweise über 30 Prozent. Gründe sind neben körperlichen Anforderungen vor allem ein verändertes Werteverständnis in der Generation Z. Viele junge Menschen können sich einen Dienst an der Waffe nicht vorstellen oder lehnen das Militär grundsätzlich ab.
Was spricht für einen verpflichtenden Wehrdienst?
Die Befürworter eines verpflichtenden Modells führen neben der militärischen Notwendigkeit auch gesellschaftspolitische Gründe an. Insbesondere Henning Otte und CDU-Parteichef Friedrich Merz argumentieren, dass eine allgemeine Dienstpflicht – nicht nur im Militär – die gesellschaftliche Kohärenz stärken könnte.
- Erhöhung der Truppenstärke ohne extrem hohe Kosten für Werbung und Personalbindung
- Verankerung demokratischer Werte durch gemeinsamen Dienst
- Stärkung der inneren Widerstandskraft in Krisenzeiten
Auch andere Modelle werden diskutiert: Die bayerischen Grünen schlugen jüngst einen „Freiheitsdienst“ vor, bei dem junge Menschen zwischen einem Dienst in der Bundeswehr, im Bevölkerungsschutz oder im Sozialwesen wählen können. Diese Form könnte sowohl militärische als auch zivile Dienste abdecken und wäre breiter anschlussfähig für unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen.
Und was spricht dagegen?
Die Gegenargumente sind ebenso vielfältig. Neben verfassungsrechtlichen Fragen – die Wehrpflicht wurde 2011 nur ausgesetzt, nicht abgeschafft – stehen vor allem ökonomische und gesellschaftliche Aspekte im Raum. Das ifo-Institut hat kürzlich Zahlen vorgelegt, die zeigen, dass ein verpflichtender Wehrdienst hohe volkswirtschaftliche Kosten verursachen würde.
Modell | Staatsausgaben (jährlich) | Volkswirtschaftliche Kosten | Effekt auf Bundeswehr |
---|---|---|---|
Wehrpflicht (12 Monate) | 3,2 Mrd. € | 17,1 Mrd. € | +195.000 Soldaten |
Freiwilligendienst mit höherem Gehalt | 7,7 Mrd. € | 9,4 Mrd. € | +100.000 Bewerber (geschätzt) |
Zudem ist der Widerstand in Teilen der Bevölkerung groß. Während eine Mehrheit der Deutschen laut Umfragen die Wehrpflicht grundsätzlich befürwortet, lehnen insbesondere junge Menschen zwischen 18 und 29 Jahren sie deutlich ab. Kritiker warnen zudem vor einem Eingriff in die individuelle Freiheit und die Bildungskarrieren junger Menschen.
Internationale Einblicke: Was machen andere Länder?
Auch andere europäische Länder diskutieren über den Wehrdienst. Frankreich plant, die 2019 eingeführte „Service National Universel“-Initiative weiter auszubauen. In Schweden wurde die Wehrpflicht 2017 nach einer Pause von sieben Jahren wieder eingeführt – allerdings selektiv und nicht flächendeckend. Norwegen geht sogar einen Schritt weiter: Dort gilt die Wehrpflicht für Männer und Frauen gleichermaßen.
Eine europaweite Umfrage zeigt: In Frankreich unterstützen 62 % der Bevölkerung die Rückkehr zur Wehrpflicht – und auch in Deutschland liegt die Zustimmung aktuell bei rund 58 %. Allerdings klafft auch hier eine Generationenlücke: Die Zustimmung sinkt bei den 18- bis 25-Jährigen auf unter 40 %.
Wehrpflicht vs. moderne Rekrutierung: Ein Paradigmenwechsel?
Die Frage, ob Deutschland zurück zur Pflicht soll, ist nicht nur eine sicherheitspolitische, sondern auch eine kulturelle. In einer Gesellschaft, die stark auf individuelle Freiheit und Selbstbestimmung ausgerichtet ist, wirkt ein verpflichtender Wehrdienst für viele wie ein Rückgriff auf vergangene Zeiten. Gleichzeitig stehen staatliche Institutionen wie die Bundeswehr unter wachsendem Druck, ihre Aufgaben erfüllen zu können.
Ein Mittelweg könnte in einem neuen Modell bestehen: einer verpflichtenden „Gesellschaftsdienstzeit“, wie sie in mehreren Bundesländern diskutiert wird. Hierbei würden alle jungen Erwachsenen – unabhängig von Geschlecht oder Herkunft – einen Beitrag leisten, etwa im Pflegebereich, im Katastrophenschutz oder in der Bundeswehr. Eine solche Variante könnte sowohl die personellen Engpässe der Bundeswehr lindern als auch der Forderung nach mehr sozialem Zusammenhalt gerecht werden.
Fazit: Pflicht oder Freiwilligkeit – wohin steuert Deutschland?
Ob es zur Wiedereinführung eines verpflichtenden Wehrdienstes kommt, bleibt offen. Die kommenden Monate werden entscheidend sein: Zeigt das neue Freiwilligenmodell Wirkung, dürfte der Ruf nach Pflicht leiser werden. Gelingt es nicht, genügend Menschen für den Dienst zu motivieren, wird Henning Ottes Forderung nach einem verpflichtenden Dienst wieder lauter werden – und mit ihm eine Grundsatzdebatte über Staat, Gesellschaft und individuelle Verantwortung.
Eines ist sicher: Die sicherheitspolitische Realität zwingt Deutschland dazu, neue Wege zu denken – ob mit oder ohne Pflicht an der Waffe.