
1. Dezember 2025 – Die Energiewende ist weit vorangeschritten, doch die Stromnetze geraten zunehmend unter Druck. Zwischen ehrgeizigen Ausbauzielen und der Realität überlasteter Leitungen tut sich ein neues Spannungsfeld auf. Nun fordert ausgerechnet Europas größter Netzbetreiber eine Abkehr von einer Grundannahme, die Deutschlands Energiepolitik jahrzehntelang geprägt hat.
Warum E.ON einen Paradigmenwechsel verlangt
Leonhard Birnbaum, Vorstandsvorsitzender von E.ON, hat in einem Interview einen bemerkenswert deutlichen Kurs angemahnt: Deutschland solle bei zukünftigen Netzanschlüssen nicht länger automatisch Solar- und Windenergie bevorzugen, sondern verstärkt Industrie und Gewerbe priorisieren. Für Birnbaum ist damit eine rote Linie erreicht, die über Jahre hinweg politisch unverrückbar schien.
Er begründet diesen Vorstoß mit einer einfachen, aber in seiner Konsequenz weitreichenden Diagnose: Erneuerbare Energien decken bereits einen Großteil des Stromverbrauchs – und das Netz sei an vielen Stellen am Limit. Der weitere Zubau von Windkraft- und Photovoltaikanlagen müsse daher stärker an der realen Infrastruktur ausgerichtet werden. Neue Erzeugungsanlagen zu fördern, obwohl die Kapazität zur Aufnahme ihres Stroms fehlt, sei weder effizient noch wirtschaftlich.
Hinzu kämen langfristige finanzielle Verpflichtungen. Vor allem die über zwanzig Jahre laufenden Vergütungen für neue Solaranlagen erschweren aus Sicht des Konzerns die Stabilität des Systems. Sie binden dauerhaft Mittel und verlangen ein Netz, das auch die stark schwankenden Einspeisungen zuverlässig bewältigen muss.
Netze an der Belastungsgrenze
Dass die deutschen Stromnetze vielerorts an ihre Grenzen stoßen, ist nicht neu. Doch der rasante Zubau neuer erneuerbarer Erzeuger, ergänzt durch große neue Verbraucher wie Fabriken oder Rechenzentren, hat die Lage verschärft. Die Folge: steigende Netzengpässe, höhere Umlagen und ein Flickenteppich regional unterschiedlicher Kapazitäten.
E.ON betont, dass das Missverhältnis zwischen Erzeugungs- und Transportinfrastruktur zunehmend Probleme schafft. Das Netz wurde in den vergangenen Jahren nicht im gleichen Tempo ausgebaut wie Wind- und Solaranlagen. Dadurch entstehen Ineffizienzen, die zu höheren Kosten für Verbraucher führen und die Versorgungssicherheit belasten können.
Die Forderungen im Überblick
- Netzanschlüsse künftig stärker nach wirtschaftlicher Bedeutung priorisieren – insbesondere zugunsten der Industrie.
- Förderstrukturen für neue Solar- und Windanlagen neu bewerten, um langfristige Belastungen zu reduzieren.
- Erzeugungszuwachs zwingend an tatsächliche Netzkapazitäten koppeln, statt Ausbauziele isoliert voranzutreiben.
Birnbaum spricht von „verbranntem Geld“, wenn Anlagen gefördert und ans Netz gebracht werden, deren Strom aufgrund fehlender Kapazitäten nicht sinnvoll genutzt werden kann. Der über Jahrzehnte gewachsene Grundsatz, erneuerbare Energien bei Netzanschlüssen stets bevorzugt zu behandeln, passe nicht länger zur Realität.
Politischer Kontext und wirtschaftlicher Druck
Deutschland hat seine Ausbauziele für Photovoltaik und Windkraft hoch angesetzt. Diese Ziele waren politisch motiviert und eng verknüpft mit der Hoffnung auf einen stark steigenden Strombedarf: mehr Elektroautos, mehr Wärmepumpen, mehr elektrifizierte Industrieprozesse. Doch dieser Anstieg vollzieht sich deutlich langsamer als erwartet.
Während die Kapazitäten wachsen, bleibt der Bedarf hinter den Prognosen zurück – und das Netz trägt die Last. Energieunternehmen sehen sich damit in einer komplexen Lage: Einerseits sind Investitionen in Infrastruktur dringend nötig, andererseits sind die finanziellen Rahmenbedingungen anspruchsvoll. Die Renditen sind durch Regulierung begrenzt, Genehmigungsprozesse langwierig, und der politische Druck hoch.
Aus diesem Spannungsfeld heraus entsteht der Ruf nach einem realistischeren Umgang mit Netzanschlüssen, Ausbaugeschwindigkeit und Priorisierung. Für E.ON ist klar: Die Energiewende könne nur gelingen, wenn sie auf einem stabilen Netz basiere, das zu jeder Zeit zuverlässig funktioniert.
Kontroverse Reaktionen
Der Vorstoß des Netzbetreibers hat bereits eine Debatte ausgelöst. Befürworter erneuerbarer Energien äußern die Sorge, dass der Ausbau von Wind- und Solaranlagen verlangsamt werden könnte. Dies wiederum könnte die Klimaziele gefährden, die einen deutlich höheren Anteil erneuerbarer Energien voraussetzen.
Vertreter aus Wirtschaft und Industrie sehen die Forderung naturgemäß anders: Für sie ist eine stabile Stromversorgung grundlegend. Ohne ausreichende Netzkapazitäten entstehen Verzögerungen, höhere Kosten und Standortnachteile. Viele Unternehmen haben deshalb Verständnis für den Vorschlag einer Priorisierung – insbesondere angesichts des internationalen Wettbewerbs.
Ein Balanceakt zwischen Klima und Netzsicherheit
Die Debatte beleuchtet einen grundlegenden Zielkonflikt der Energiewende: Die Umstellung auf erneuerbare Energien ist politisch gewollt und technologisch möglich, doch sie stößt an physikalische und infrastrukturelle Grenzen. Wie diese Grenzen künftig berücksichtigt werden, könnte die Geschwindigkeit und Richtung der Transformation maßgeblich prägen.
Ein Wendepunkt – mit ungewissem Ausgang
Die Forderung von E.ON steht sinnbildlich für eine neue Phase der Energiewende. Weg vom reinen Erzeugungsfokus, hin zu einem nüchternen Blick auf Netzkapazitäten, Versorgungssicherheit und wirtschaftliche Tragfähigkeit. Die kommenden Monate werden zeigen, ob dieser Ansatz politischen Rückhalt findet – und ob er den notwendigen Ausgleich zwischen Klimazielen und Systemstabilität schafft.
Fest steht: Die Diskussion über Prioritäten im Stromnetz wird die Energiepolitik in Deutschland nachhaltig verändern. Was daraus entsteht, könnte den Kurs des Landes über Jahre prägen – und darüber entscheiden, wie belastbar und zukunftsfähig die Energiewende am Ende wirklich ist.