
Berlin, 15. Juni 2025, 18:55 Uhr
Der neue Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Hendrik Streeck (CDU), hat in einer viel beachteten öffentlichen Stellungnahme ein problematisches Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu Alkohol und Tabak kritisiert. In seinen Ausführungen betont der renommierte Virologe, dass beide Suchtmittel tief in der deutschen Alltagskultur verwurzelt seien – mit gravierenden gesundheitlichen und gesellschaftlichen Folgen. Streeck fordert eine offenere Debatte, gezielte Präventionsmaßnahmen und ein Ende des begleiteten Trinkens ab 14 Jahren. Doch was genau steckt hinter dieser Aussage – und wie ist sie im gesellschaftlichen, politischen und historischen Kontext zu bewerten?
Verbreitung und Folgen: Deutschland als Hochkonsumnation
Deutschland zählt zu den Ländern mit dem höchsten Alkoholkonsum weltweit. Pro Jahr werden im Durchschnitt rund 10 Liter Reinalkohol pro Kopf konsumiert – deutlich mehr als in vielen anderen Industrieländern. Etwa 7,9 Millionen Erwachsene zwischen 18 und 64 Jahren konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Weise, rund neun Millionen gelten als problematisch abhängig. Der Tabakkonsum liegt ebenfalls auf hohem Niveau: Rund 22,7 % aller Erwachsenen rauchen regelmäßig, was etwa 11,6 Millionen Menschen entspricht. Problematisch rauchen etwa 7,8 % der Bevölkerung.
Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen sind immens. Die durch Alkohol verursachten Folgekosten – etwa in Form von Krankheitsbehandlungen, Produktivitätsverlust oder Kriminalität – werden auf rund 57 Milliarden Euro jährlich geschätzt. Tabak fordert nach wie vor zwischen 110.000 und 140.000 Todesopfer pro Jahr allein in Deutschland.
Jugendliche im Fokus: Wandel des Konsumverhaltens
Besonders beunruhigend ist der Blick auf die jungen Generationen. Auch wenn die Zahl der regelmäßigen Konsumenten unter Jugendlichen rückläufig ist – nur noch etwa drei Prozent der 12- bis 17-Jährigen konsumieren regelmäßig Alkohol –, bleibt das sogenannte Rauschtrinken weiterhin ein ernstes Problem. Der erste Kontakt mit Alkohol liegt statistisch im Alter von rund 15 Jahren, der erste Rausch folgt im Schnitt mit 16,3 Jahren.
Streeck kritisiert insbesondere die gesetzlich erlaubte Praxis des begleiteten Trinkens: Jugendliche dürfen in Deutschland ab 14 Jahren Bier, Wein oder Sekt konsumieren, wenn ein Erziehungsberechtigter anwesend ist. „Alkohol wird aber nicht weniger schädlich, nur weil Erwachsene dabeisitzen“, so Streeck. Eine solche Regelung sende das falsche Signal an junge Menschen.
Gesetzgebung: Ein internationaler Sonderfall
Im europäischen Vergleich zählt Deutschland zu den Ländern mit den liberalsten Alkohol- und Tabakgesetzen. Während Länder wie Schweden oder Norwegen strengere Regelungen und deutlich höhere Alkoholpreise haben, gilt Deutschland mit seiner Bier- und Weinkultur als verhältnismäßig offen. Auch die Besteuerung ist vergleichsweise niedrig: Wein wird in Deutschland überhaupt nicht besteuert, Bier nur in geringem Umfang.
Bei Tabak verhält es sich ähnlich. Deutschland verfügt im EU-Vergleich über viele Zigarettenautomaten, relativ geringe Steueraufschläge und weniger restriktive Rauchverbote im öffentlichen Raum. Diese Rahmenbedingungen fördern nach Meinung vieler Experten eine Alltagskultur, in der Tabak- und Alkoholkonsum sozial weitgehend akzeptiert sind.
Kulturelle Verwurzelung: Zwischen Tradition und Normalisierung
Der Konsum von Alkohol ist in der deutschen Gesellschaft tief verankert. Begriffe wie „Frühschoppen“, „Stammtisch“ oder „Feierabendbier“ zeugen davon, wie stark das Trinken mit sozialen und kulturellen Ritualen verknüpft ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Rauchen, das noch bis in die 1990er-Jahre gesellschaftlich weitgehend akzeptiert war – auch in öffentlichen Gebäuden und Verkehrsmitteln.
Diese kulturelle Prägung erschwert tiefgreifende Veränderungen. Maßnahmen wie Steuererhöhungen oder Werbeverbote stoßen oft auf politischen Widerstand, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen. Der Tabaksteuer allein bringt dem Staat jährlich rund 14 Milliarden Euro ein – eine Einnahmequelle, die nicht ohne Weiteres verzichtbar scheint.
Streecks Lösungsansatz: Prävention statt Prohibition
Hendrik Streeck betont in seinen Aussagen, dass er keine generelle Erhöhung des gesetzlichen Mindestalters oder ein Verbot des Alkoholkonsums anstrebt. Vielmehr gehe es ihm um eine gesellschaftliche Neubewertung: „Wir müssen das Problem beim Namen nennen und gezielt gegensteuern.“ Eine seiner zentralen Forderungen ist die Abschaffung des begleiteten Trinkens. Stattdessen setzt er auf eine Verbesserung der Aufklärung und frühzeitige Intervention.
Ein Modell mit großem Potenzial ist das sogenannte SBIRT-Verfahren („Screening, Brief Intervention and Referral to Treatment“). Dabei werden Patienten in der hausärztlichen Versorgung routinemäßig auf problematischen Alkohol- oder Tabakkonsum getestet und bei Bedarf beraten oder an spezialisierte Stellen vermittelt. Studien zeigen, dass solche Kurzinterventionen sehr effektiv sein können – doch in Deutschland wird dieses Modell bisher kaum angewendet. Nur 2,9 Prozent der Hausärzte nutzen entsprechende Screening-Verfahren in der Praxis.
Historische Tiefenstruktur: Von NS-Kampagnen bis Nachkriegsliberalität
Interessanterweise war Deutschland nicht immer so liberal im Umgang mit Tabak. Schon im Dritten Reich wurden umfassende Anti-Tabak-Kampagnen gefahren – teils mit radikalen Mitteln, teils mit medizinisch motivierten Aufklärungskampagnen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele dieser Regulierungen allerdings abgeschafft oder deutlich zurückgefahren. Die Folge: eine stark kommerzialisierte Tabakkultur in den Nachkriegsjahrzehnten, die bis heute nachwirkt.
Internationale Perspektiven: Deutschland unter Beobachtung
Im internationalen Vergleich steht Deutschland zunehmend unter Druck, seine Drogenpolitik zu reformieren. Länder wie Kanada, Neuseeland oder Schweden verfolgen deutlich präventivere Strategien, etwa durch hohe Preisgrenzen, umfassende Werbeverbote und restriktive Verkaufszeiten. Auch in der WHO wird Deutschlands vergleichsweise lockerer Umgang mit Alkohol und Tabak immer wieder kritisiert.
Gleichzeitig zeigen internationale Beispiele, dass übermäßige Restriktionen ebenfalls ihre Tücken haben können. Streeck verweist daher bewusst auf historische Misserfolge wie die US-amerikanische Prohibition, die in den 1920er-Jahren zu illegalem Handel, organisierten Strukturen und gesellschaftlicher Spaltung führte.
Gegner und Unterstützer: Die politische Debatte beginnt
Streecks Vorstoß ist nicht unumstritten. Während Gesundheitsorganisationen und Jugendschutzverbände seine Vorschläge begrüßen, regt sich aus wirtschaftsnahen und liberalen Kreisen Widerstand. Kritiker werfen ihm vor, staatliche Bevormundung zu betreiben oder traditionelle Lebensgewohnheiten zu problematisieren.
Die Ampelkoalition hat sich bislang zurückhaltend geäußert, auch aus Angst vor einem gesellschaftlichen „Kulturkampf“. Dennoch ist die Debatte angestoßen – und könnte in den kommenden Monaten Fahrt aufnehmen, insbesondere mit Blick auf die nächste Reform des Jugendschutzgesetzes.
Ein überfälliger Diskurs?
Ob Streeck mit seinen Forderungen durchdringen wird, bleibt abzuwarten. Sicher ist jedoch: Seine Kritik trifft einen wunden Punkt. Alkohol- und Tabakkonsum in Deutschland ist nicht nur ein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem. Die tiefe kulturelle Verwurzelung erschwert Reformen – aber sie macht sie nicht unmöglich.
Wenn der öffentliche Diskurs, wie von Streeck gewünscht, nun offener geführt wird, könnten sich neue Präventionsansätze und gesetzliche Neuregelungen entwickeln. Der Fokus liegt dabei nicht auf Verboten, sondern auf Verantwortungsbewusstsein, Aufklärung und medizinischer Frühintervention. Nur so kann es gelingen, den problematischen Konsum nachhaltig einzudämmen – ohne in die Fehler vergangener Prohibitionsversuche zu verfallen.