Imamoğlu im Visier der Justiz Türkei: Über 2.000 Jahre Haft für Istanbuls Bürgermeister gefordert

In Ausland
November 12, 2025

Istanbul, 12. November 2025 Früh am Morgen drängten sich Journalisten und Unterstützer vor dem Justizpalast im Istanbuler Stadtteil Çağlayan. Dutzende Kameras richteten sich auf den Eingang, wo Ekrem İmamoğlu, Bürgermeister von Istanbul und eine der bekanntesten Figuren der türkischen Opposition, in Handschellen vorgeführt wurde. Hinter ihm: ein Trupp von Sicherheitskräften, vor ihm: eine Anklageschrift, die in ihrer Dimension beispiellos ist – bis zu 2.430 Jahre Haft fordert die Staatsanwaltschaft.

Ein beispielloser Fall in der türkischen Justiz

Nach Angaben der Staatsanwaltschaft umfasst die Anklageschrift gegen İmamoğlu 142 Einzeldelikte. Sie reichen von der Bildung einer kriminellen Vereinigung über Geldwäsche und Bestechung bis hin zu Ausschreibungsbetrug und Spionage. Der Bürgermeister soll laut Ermittlungsbehörde als „Gründer und Leiter“ eines Netzwerks agiert haben, das über Jahre hinweg öffentliche Gelder veruntreut und Ausschreibungen manipuliert haben soll. Insgesamt wird ein finanzieller Schaden von rund 160 Milliarden Lira – etwa 3,8 Milliarden US-Dollar – beziffert.

Die Ermittler nennen 402 Mitbeschuldigte, darunter Beamte, Unternehmer und Berater aus dem Umfeld des Rathauses. 105 von ihnen sitzen derzeit in Untersuchungshaft. Die mehr als 4.000 Seiten umfassende Akte benennt über 70 Zeugen, darunter verdeckte Informanten. Nach Angaben der Ermittlungsbehörde wurde das Material über acht Monate hinweg gesammelt.

Hintergrund der Ermittlungen und mögliche Motive

Die Frage, warum ein so drastisches Strafmaß gefordert wird, beschäftigt nicht nur juristische Beobachter. Die Zahl von mehr als 2.000 Jahren ergibt sich aus der Addition aller theoretischen Höchststrafen der einzelnen Anklagepunkte. In der Praxis könnte ein Urteil – sollte es überhaupt zu einer Verurteilung kommen – ein deutlich geringeres Strafmaß bedeuten. Dennoch ist der symbolische Effekt enorm: Ein führender Oppositionspolitiker steht unter Anklage, und das in einem politischen Klima, das seit Jahren von Spannungen zwischen Regierung und Opposition geprägt ist.

In sozialen Medien, etwa auf Reddit und X, wird der Fall heftig diskutiert. Nutzer verweisen auf das „politische Timing“: Die Untersuchungen zu möglichen Unregelmäßigkeiten in der Stadtverwaltung begannen erst 2020 – also nach İmamoğlus Wahlsieg über die regierungsnahe AKP. Viele Kommentatoren sehen darin ein gezieltes Signal an andere Oppositionspolitiker.

Politische Dimension und internationale Reaktionen

Kritiker im In- und Ausland werten das Verfahren als Teil einer umfassenden Strategie der türkischen Regierung, politische Gegner systematisch zu schwächen. Analysen der Stiftung Wissenschaft und Politik sehen in İmamoğlus Verhaftung ein Beispiel für den zunehmenden „autoritären Umbau“ des türkischen Staates. Auch der Verfassungsblog spricht von „judicial harassment“ – der gezielten Nutzung juristischer Verfahren zur politischen Ausschaltung von Konkurrenten.

İmamoğlu selbst bezeichnete das Verfahren als „Schande“ und wandte sich in einer Erklärung an die Öffentlichkeit: „Hoffnung liegt beim Volk der Türkei“, sagte er bei einem Gerichtstermin. Unterstützer skandierten vor dem Gebäude „İmamoğlu Präsident“, während der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, auf X von „Zensur der Stimmen von Millionen“ sprach, nachdem İmamoğlus Social-Media-Konten zeitweise gesperrt worden waren.

Vorwürfe, Verteidigung und rechtliche Folgen

Im Kern der Anklage stehen folgende Hauptpunkte:

  • Bildung und Leitung einer kriminellen Vereinigung
  • Bestechung, Erpressung und Geldwäsche
  • Ausschreibungsbetrug bei öffentlichen Bauprojekten
  • Verwendung gefälschter akademischer Nachweise

Besonders brisant ist der Vorwurf der gefälschten Universitätsurkunde. Die Istanbul Üniversitesi hatte İmamoğlus Abschluss annulliert – ein Schritt, der ihn von einer künftigen Präsidentschaftskandidatur ausschließen könnte, da laut türkischem Wahlgesetz ein Hochschulabschluss Voraussetzung ist.

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen

Die Festnahme und die anschließende Anklage führten zu den größten Protesten in der Türkei seit 2013. Tausende Menschen gingen in Istanbul, Ankara und Izmir auf die Straße. Auch wirtschaftlich waren die Auswirkungen spürbar: Die türkische Lira fiel unmittelbar nach der Bekanntgabe des Anklageumfangs, Investoren äußerten Zweifel an der Rechtssicherheit des Landes. Internationale Beobachter warnten vor weiterem Kapitalabfluss, sollte sich der politische Druck auf die Opposition fortsetzen.

Öffentliche Wahrnehmung und rechtliche Perspektive

In den sozialen Netzwerken formte sich rasch eine Bewegung, die İmamoğlu als Symbol für demokratische Erneuerung sieht. Der Hashtag #FreeImamoglu trendete zeitweise weltweit. Dennoch bleibt unklar, wie das Gericht in Istanbul entscheiden wird. Der Prozessbeginn ist für Anfang 2026 angesetzt, ein Urteil könnte sich jedoch über Jahre hinziehen. Rechtsexperten verweisen darauf, dass Berufungen und internationale Beschwerdeverfahren wahrscheinlich seien.

Ein Land im juristischen und politischen Spannungsfeld

Der Fall Ekrem İmamoğlu markiert einen neuen Höhepunkt im Machtkampf zwischen Regierung und Opposition in der Türkei. Während die Staatsanwaltschaft in Istanbul von einem groß angelegten Korruptionsfall spricht, sehen Beobachter darin ein Muster staatlicher Machtausweitung über juristische Mittel. Der Prozess wird nicht nur über die Zukunft eines Mannes entscheiden, sondern auch über das Vertrauen vieler Bürger in die Unabhängigkeit der türkischen Justiz. Wie lange die Schockwelle anhält – und welche politischen Folgen daraus entstehen – bleibt offen, doch die symbolische Wirkung des Verfahrens ist bereits jetzt enorm.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.