
Ein Urteil mit Sprengkraft: Was das BAG entschieden hat
Am 27. Juni 2025 stellte das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt klar: Eine medizinische Fachangestellte (MFA) kann keinen Anspruch auf die gleiche Vergütung wie eine operationstechnische Assistentin (OTA) geltend machen – obwohl sie im selben OP-Team arbeitet. Die Richter urteilten, dass ein Unterschied im Gehalt zulässig sei, wenn die höhere Eingruppierung sachlich begründet ist. Im konkreten Fall war das durch die längere und spezifischere Ausbildung der OTA gegeben.
Der juristische Kern des Urteils: Es genügt, wenn es „einleuchtende Gründe“ für eine unterschiedliche Bezahlung gibt. Eine tarifliche Eingruppierung ist nur dann unzulässig, wenn sie auf Willkür basiert. Das Urteil bedeutet jedoch keinesfalls einen Freifahrtschein für beliebige Lohndifferenzen.
Der Fall im Detail
Eine MFA, die in einem öffentlichen Krankenhaus im OP eingesetzt wurde, klagte gegen ihre Eingruppierung. Sie sah sich benachteiligt, da OTA-Kollegen deutlich mehr verdienten – teils bis zu 550 Euro monatlich. Während die MFA nach der allgemeinen Entgeltgruppe bezahlt wurde, waren OTAs in einer höheren Pflege-Entgeltgruppe eingruppiert.
Das BAG bestätigte: Die tarifliche Differenzierung ist zulässig, solange ein sachlicher Grund vorliegt. Und dieser Grund war die weiterführende Ausbildung der OTAs, die auf komplexere Aufgaben vorbereitet.
Tarifautonomie und Gleichbehandlung: Ein juristischer Balanceakt
Das Urteil steht auf dem Fundament des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes – aber es berücksichtigt auch die Tarifautonomie. Arbeitgeber dürfen demnach innerhalb von Tarifverträgen unterschiedliche Gehälter festlegen, wenn diese Unterschiede sachlich gerechtfertigt sind. Ausbildung, Verantwortung und Erfahrung zählen zu den legitimierenden Faktoren.
Was hingegen nicht zulässig ist: Eine Ungleichbehandlung auf Basis von Geschlecht, Herkunft oder subjektivem Verhandlungsgeschick. Dies hatte das BAG in einem anderen Urteil aus dem Jahr 2023 explizit klargestellt, als einer Frau 14.500 Euro Gehaltsnachzahlung sowie 2.000 Euro Entschädigung zugesprochen wurden – weil ihr männlicher Kollege für die gleiche Arbeit mehr erhielt.
Was ist eine „sachlich gerechtfertigte Differenzierung“?
Damit Arbeitgeber unterschiedliche Gehälter rechtfertigen dürfen, müssen klare Kriterien erfüllt sein:
- Ausbildung: Unterschiedliche Ausbildungswege mit variierendem Schwierigkeitsgrad und Spezialisierung.
- Verantwortung: Mehr Verantwortung oder Risiko kann höheres Gehalt rechtfertigen.
- Berufserfahrung: Längere oder tiefere Berufserfahrung darf berücksichtigt werden.
- Arbeitszeitmodell: Schichtarbeit oder Rufbereitschaft kann sich im Gehalt widerspiegeln.
Im MFA-OTA-Fall war der ausschlaggebende Faktor die Spezialisierung durch eine gesonderte Ausbildung. Diese Entscheidung hat aber auch eine Schattenseite: Wenn Tätigkeiten nahezu gleich sind, aber nur die Ausbildung variiert, entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen faktischer Arbeitsleistung und Entlohnung.
Einordnung durch Fachwelt und Öffentlichkeit
Fachjuristen und Arbeitsrechtler bewerten das Urteil als konsequent, aber problematisch in der Signalwirkung. Die Personalwirtschaft betont, dass Tarifverträge in ihrer Struktur genau solche Differenzierungen zulassen – eine Vereinheitlichung sei weder praktikabel noch rechtlich geboten.
Anders sieht es in sozialen Netzwerken aus. Unter dem Hashtag #gleicheArbeit wird das Urteil kritisch diskutiert. Nutzer auf Twitter und in Kommentaren bei Fachportalen äußern Unverständnis darüber, dass zwei Personen im gleichen OP mit unterschiedlicher Bezahlung konfrontiert sind – obwohl die Patientensicherheit von beiden abhängt.
„Wenn ich als MFA am OP-Tisch assistiere und dieselbe Verantwortung trage, dann möchte ich auch dasselbe verdienen – Ausbildung hin oder her“, schreibt eine Nutzerin auf Twitter.
Ein strukturelles Problem: Lohnunterschiede in Deutschland
Deutschland kämpft seit Jahren mit strukturellen Ungleichheiten bei der Bezahlung. Der unbereinigte Gender Pay Gap lag 2024 bei rund 16 Prozent – also dem durchschnittlichen Unterschied im Bruttostundenlohn zwischen Männern und Frauen. Selbst bei vergleichbarer Tätigkeit und Qualifikation bleibt ein bereinigter Gap von etwa 6 Prozent bestehen.
Eine Übersicht zu häufigen Ursachen für Lohnunterschiede:
Ursache | Einfluss auf den Lohn |
---|---|
Teilzeitarbeit | Geringerer Stundenlohn durch reduzierte Verantwortung |
Berufswahl | Pflege, Soziales, Erziehung sind oft schlechter bezahlt |
Karriereunterbrechungen | Lücken durch Elternzeit oder Pflegezeit |
Tarifbindung | Tarifverträge sorgen für mehr Lohngleichheit |
Insofern ist das Urteil auch ein Spiegel dieser strukturellen Gegebenheiten. Es mag juristisch korrekt sein, bringt aber eine Debatte in Gang, wie gerecht unsere Entlohnungssysteme tatsächlich sind.
Transparenz als Schlüssel zur Gerechtigkeit
Die EU hat das Problem erkannt. Ab Mitte 2026 wird eine neue Entgelttransparenzrichtlinie in Kraft treten. Sie verpflichtet Unternehmen, ihre Gehaltsstrukturen offenzulegen – beispielsweise durch die Veröffentlichung von Einstiegsgehältern in Stellenanzeigen oder durch verpflichtende Berichtspflichten bei einem Lohngefälle von mehr als fünf Prozent zwischen Geschlechtern.
Auch kleinere Unternehmen werden nicht verschont: Bereits ab 100 Mitarbeitenden greifen Transparenzanforderungen. Das Ziel: Systemische Diskriminierungen sollen nicht mehr unter dem Deckmantel der Intransparenz verborgen bleiben.
Was sich künftig ändern könnte
- Lohnberichte werden verpflichtend
- Beschäftigte erhalten Auskunftsrechte über Vergleichsgehälter
- Strafen bei unzulässigen Lohnlücken
- Stärkung von Betriebsräten bei Entgeltkontrollen
Diese Entwicklungen könnten in Zukunft auch Fälle wie den der MFA neu bewerten lassen – zumindest, wenn sich herausstellt, dass Lohnunterschiede systematisch und nicht mehr sachlich begründbar sind.
Zwischen Recht und Moral: Was bleibt?
Das BAG-Urteil steht exemplarisch für den juristischen Umgang mit einem gesellschaftlich hochsensiblen Thema. Es bringt eine klare Linie: Sachlich gerechtfertigte Lohnunterschiede sind erlaubt. Gleichzeitig wirft es die Frage auf, ob unsere Lohnsysteme tatsächlich der Realität in vielen Berufen gerecht werden – etwa in Pflege, Bildung oder medizinischen Assistenzberufen.
Gewerkschaften wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordern deshalb eine stärkere Tarifbindung, gerade in frauendominierten Berufen. Nur so könne das Versprechen von „gleichem Lohn für gleiche oder gleichwertige Arbeit“ wirklich eingelöst werden.
Ein Urteil mit Langzeitwirkung
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts wird weit über den konkreten Fall hinaus Wirkung entfalten. Es definiert klare Rahmenbedingungen, unter denen Differenzierungen erlaubt sind – doch es ist auch ein Weckruf für Politik und Gesellschaft. Die Frage, wie wir Arbeit bewerten und entlohnen, bleibt eine der zentralen Gerechtigkeitsfragen unserer Zeit.
Der Fall zeigt: Wer gleiche Arbeit leistet, bekommt nicht automatisch den gleichen Lohn – und doch ist die Diskussion darüber wichtiger denn je. Transparenz, Tarifbindung und gesellschaftlicher Dialog sind die Stellschrauben für mehr Fairness in der Arbeitswelt von morgen.