
Gaza-Stadt, 13. Juni 2025, 07:45 Uhr
Die humanitäre Lage im Gazastreifen hat sich seit Beginn des Jahres dramatisch verschärft. Zahlreiche Organisationen bemühen sich derzeit, die Bevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen – doch ihre Arbeit ist gefährlich, politisch umstritten und vielerorts blockiert. Während sich die neue Gaza Humanitarian Foundation (GHF) als zentraler Akteur inszeniert, geraten etablierte Hilfswerke zunehmend ins Abseits. Ein Überblick über den aktuellen Stand, Herausforderungen vor Ort und die vielfältigen Perspektiven auf eine Krise, die längst weit über Gaza hinaus Wellen schlägt.
Die dramatische Lage: Hungersnot, Gewalt und Zusammenbruch
Seit März 2025 ist der Zugang zu Hilfsgütern stark eingeschränkt. Israels Blockade des Gazastreifens hat zu einer humanitären Katastrophe geführt. Laut aktuellen UN-Angaben sind über 55.000 Menschen seit Oktober 2023 ums Leben gekommen, mehr als 127.000 wurden verletzt. Die Preise für Lebensmittel sind bis zu 1.400 Prozent gestiegen. Über 65.000 Kinder sind akut mangelernährt, darunter fast 2.700 unter fünf Jahren.
Diese Zahlen verdeutlichen das Ausmaß einer Krise, die längst nicht mehr nur humanitärer, sondern auch politischer und juristischer Natur ist. Immer wieder kommt es bei der Verteilung von Lebensmitteln zu Angriffen, chaotischen Szenen und tragischen Todesfällen. In manchen Fällen enden die Warteschlangen an Verteilzentren tödlich.
Internationale Organisationen
Gaza Humanitarian Foundation (GHF)
Politisch initiierte Organisation, unterstützt von Israel und den USA. Verteilung von Lebensmittelpaketen in vier Zentren.UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge)
Starke Einschränkungen, aber weiterhin aktiv in Notunterkünften, Bildung und Basisversorgung.UNICEF
Fokus auf Kinderhilfe: Trinkwasser, Hygieneartikel, Impfprogramme und psychologische Unterstützung.World Food Programme (WFP)
Liefert Lebensmittelrationen über koordinierte Lieferungen mit der israelischen Armee.Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières)
Mobile Kliniken, Notoperationen, Versorgung von Krankenhäusern.Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK)
Unterstützung für den Palästinensischen Roten Halbmond, logistische und medizinische Versorgung.Handicap International
Versorgung von Menschen mit Behinderung, Lieferung von Hilfsmitteln, Physiotherapie.Care International
Liefert Hygiene- und Wasserpakete, derzeit eingeschränkt tätig.Mercy Corps
Verteilung von Notfallpaketen, Bildungsunterstützung, Wasseraufbereitung.Catholic Relief Services
Engagiert in Wasser- und Nahrungsmittelhilfe, Zusammenarbeit mit lokalen Partnern.Save the Children
Kinderzentrierte Hilfsmaßnahmen, Schutz und Notversorgung.
Lokale und zivilgesellschaftliche Initiativen
Gaza Soup Kitchen
Lokale Suppenküche, tägliche Versorgung tausender Menschen.Gaza Sunbirds
Paracycling-Team, das Hilfsgüter per Fahrrad an entlegene Haushalte liefert.Soumoud Convoy
Ziviler Hilfskonvoi aus Nordafrika mit Fokus auf grenznahe Versorgung.
Sonderaktionen & Einzelfälle
Freedom Flotilla Coalition („Madleen“)
Internationales Schiff mit Hilfsgütern, von Israel blockiert.UN-Sonderbeauftragte / OCHA-Missionen
Temporäre Koordinierungseinsätze zur Unterstützung der lokalen Infrastruktur.
Gaza Humanitarian Foundation: Hoffnungsträger oder PR-Projekt?
Die im Februar 2025 gegründete Gaza Humanitarian Foundation (GHF) gilt derzeit als einer der zentralen Akteure der humanitären Versorgung im Gazastreifen. Politisch unterstützt von den USA und Israel, verfolgt sie das erklärte Ziel, die umstrittene UNRWA als wichtigsten Versorgungsträger abzulösen. Seit Mai betreibt die GHF vier Verteilzentren und meldet beeindruckende Zahlen: Zwischen 11 und 17 Millionen Mahlzeiten sollen bereits verteilt worden sein.
Doch die neue Organisation steht massiv in der Kritik. Nichtregierungsorganisationen werfen der GHF mangelnde Neutralität vor, einige distanzieren sich öffentlich. Auch der Vorwurf, das Projekt sei politisch motiviert und diene eher der Imagepflege als tatsächlicher Hilfe, wird immer lauter. Hinzu kommen tragische Zwischenfälle: Mehrere GHF-Mitarbeiter wurden bei Angriffen getötet, Busse der Organisation von bewaffneten Gruppen attackiert. In einem Fall verloren bei der Essensausgabe über 60 Zivilisten ihr Leben.
Vorwürfe gegen die GHF im Überblick:
- Zu geringe Anzahl an LKWs im Einsatz
- Fehlende Transparenz bei Verteilungen
- Unzureichende Nährwertqualität der Hilfspakete
- Sicherheitsrisiko für Helfer und Empfänger
- Instrumentalisierung für politische Interessen
Wer hilft noch? Etablierte Organisationen und neue Initiativen
Trotz der schwierigen Lage sind weiterhin zahlreiche etablierte und lokale Organisationen in Gaza aktiv. Sie kämpfen täglich unter lebensgefährlichen Bedingungen darum, medizinische Hilfe, Nahrung und Wasser zu liefern.
UN-Organisationen und internationale NGOs:
Organisation | Aktuelle Aktivitäten |
---|---|
UNRWA | Stark eingeschränkt, viele Schutzdienste eingestellt |
WFP / UNICEF | Aktiv in ausgewählten Gebieten, koordiniert mit israelischer Armee |
Ärzte ohne Grenzen | Unterstützung von 21 Krankenhäusern, massive Versorgungsengpässe |
Handicap International | Physiotherapie, Rollstühle, Hilfsgüter |
Deutsches Rotes Kreuz | Logistik, Notfallteams, medizinische Versorgung |
Lokale Initiativen und Graswurzelprojekte:
- Gaza Soup Kitchen: Täglich tausende warme Mahlzeiten trotz Blockaden
- Gaza Sunbirds: Paracycling-Team liefert Hilfsgüter per Fahrrad aus
- Soumoud Convoy: Ziviler Hilfskonvoi aus Nordafrika auf dem Weg nach Rafah
Politik und Hilfseinsatz: Eine explosive Mischung
Während Hilfsorganisationen versuchen, Leben zu retten, ist die politische Dimension der Krise kaum zu übersehen. Der Konflikt zwischen Israel und der UN, zwischen etablierten NGOs und der GHF, ist ein erbitterter Kampf um Deutungshoheit und Einfluss.
Die Kritik an der GHF kommt nicht nur von NGOs, sondern auch aus höchsten UN-Kreisen. UN-Relief-Chef Tom Fletcher spricht von einem „Feigenblatt für Gewalt und Vertreibung“. Der CEO der Beratungsfirma BCG entschuldigte sich öffentlich für die Zusammenarbeit mit der GHF, nachdem Details über geheime Verträge und mangelnde Transparenz bekannt wurden. Zwei Berater wurden entlassen.
Auch europäische Politiker äußern sich deutlich. Die EU-Außenbeauftragte warnte, humanitäre Hilfe dürfe nicht zur politischen Einflussnahme verkommen. In Israel sieht man das naturgemäß anders: Die GHF wird als notwendige Antwort auf „unzuverlässige“ UN-Strukturen dargestellt.
Völkerrechtlich umstritten: Hilfe oder Zwang?
Juristisch ist die Lage nicht minder brisant. Die israelische Blockade wird von vielen UN-Stellen als Verletzung internationalen Rechts eingestuft. Der Internationale Strafgerichtshof prüft derzeit mögliche Anklagen wegen „Aushungerns als Kriegswaffe“. Auch die Übernahme von Hilfsverteilungen durch eine militärisch geschützte Organisation wie die GHF wird kritisch gesehen.
Debatte über Seerecht und Blockaden
Ein prominentes Beispiel für die zunehmende Internationalisierung des Konflikts war der Fall des Schiffs „Madleen“, das von internationalen Aktivisten – darunter Greta Thunberg – bestückt wurde und auf dem Seeweg Hilfsgüter nach Gaza bringen sollte. Israelische Behörden stoppten das Schiff, beriefen sich auf Blockaderecht. UN-Sonderberichterstatter stellten jedoch klar, dass humanitäre Hilfe uneingeschränkt erlaubt sein müsse – auch über Seewege.
Gesellschaftlicher Zusammenbruch droht
In weiten Teilen des Gazastreifens herrscht Anarchie. Lokale Sicherheitskräfte haben kaum noch Einfluss, bewaffnete Gruppen kontrollieren ganze Viertel. Hilfskonvois werden überfallen, Banken ausgeraubt, und selbst freiwillige Helfer geraten ins Visier. Die innere Struktur bricht zusammen.
Zudem wächst die Kritik innerhalb der palästinensischen Bevölkerung an der Hamas-Führung. Umfragen zeigen, dass über 70 Prozent der Menschen in Gaza der Organisation Korruption und Missmanagement vorwerfen. In mehreren Städten kam es zu spontanen Protesten mit Slogans wie „Wir wollen leben“ – ein deutliches Zeichen der Erschöpfung und Frustration.
Hilfe unter Beschuss
Die humanitäre Hilfe im Gazastreifen ist derzeit ein hochpolitischer, gefährlicher und oft widersprüchlicher Kraftakt. Während Millionen Menschen auf Nahrung, medizinische Versorgung und Sicherheit angewiesen sind, wird die Verteilung zur Bühne geopolitischer Interessen und rechtlicher Auseinandersetzungen. Die GHF mag in Zahlen stark erscheinen, doch der Preis dieser Hilfe ist hoch – nicht nur in Menschenleben, sondern auch in Glaubwürdigkeit und völkerrechtlicher Stabilität.
Der Gazastreifen steht nicht nur am Rand einer Hungersnot, sondern auch am Scheideweg zwischen internationaler Verantwortung und nationaler Interessenpolitik. Ob die humanitäre Hilfe langfristig unabhängig und sicher gewährleistet werden kann, ist mehr als fraglich. Doch genau das wäre notwendig, um den Menschen in Gaza nicht nur kurzfristige Nahrung, sondern auch eine Zukunftsperspektive zu geben.