
Erfurt, 05. Juni 2025, 09:00 Uhr
Die Einführung der Bezahlkarte für Geflüchtete sorgt in Thüringen wie bundesweit für eine intensive Debatte. Während Befürworter die Maßnahme als wirksames Mittel zur Eindämmung von Auslandsüberweisungen und Anreiz zur Integration loben, kritisieren Menschenrechtsorganisationen und Integrationsforscher die Karte als Symbolpolitik mit problematischen Folgen. Der folgende Artikel beleuchtet ausführlich die Entwicklungen, Ziele, Kritikpunkte und internationalen Erfahrungen rund um die neue Bezahlkarte in Thüringen.
Einheitliche Umsetzung seit 2024: Der Weg zur Bezahlkarte
Seit März 2024 läuft in Thüringen die Einführung der sogenannten Bezahlkarte für Geflüchtete. Zunächst wurden Folgeantragsteller einbezogen, seit Juli 2024 gilt die Regelung flächendeckend für alle Leistungsbezieher im laufenden Verfahren. Die Karte ist eine guthabenbasierte Debitkarte ohne Kontobindung, mit der Geflüchtete in Deutschland bargeldlos bezahlen können. Auslandsüberweisungen, Online-Shopping und Lastschriften sind standardmäßig ausgeschlossen.
Die monatlich zulässige Bargeldabhebung ist auf 50 Euro begrenzt. In Einzelfällen kann eine Erhöhung beantragt werden, etwa bei ärztlichen Notfällen oder besonderen Lebenslagen. Onlinekäufe sind generell untersagt, um eine zweckgebundene Nutzung im Inland sicherzustellen.
Ziele der Bezahlkarte: Kontrolle, Integration, Entlastung
Die Thüringer Landesregierung verfolgt mit der Bezahlkarte mehrere Ziele:
- Begrenzung von Auslandsüberweisungen: Die Karte soll verhindern, dass staatlich gewährte Sozialleistungen aus Deutschland in Herkunftsländer oder an Schleppernetzwerke weitergeleitet werden.
- Anreiz zur Arbeitsaufnahme: Wer eine legale Beschäftigung aufnimmt, ist von der Nutzung der Bezahlkarte ausgenommen. So soll der Anreiz erhöht werden, den eigenen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.
- Verwaltungsvereinfachung: Die Umstellung auf ein digitales Bezahlsystem soll die bisher oft manuelle und aufwendige Bargeldausgabe reduzieren und mehr Transparenz bei der Mittelverwendung schaffen.
Erste Erfahrungen aus Thüringen: Arbeitsaufnahme und Ausreisen nehmen zu
Insbesondere im Landkreis Eichsfeld zeigten sich früh Effekte: Von 400 infrage kommenden Personen benötigten am Ende nur 255 eine Bezahlkarte. Rund 75 Personen hatten nach Einführung der Karte eine Arbeit aufgenommen, weitere 70 waren freiwillig ausgereist – ein signifikanter Anstieg im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Diese Zahlen belegen laut Landratsämtern, dass die Maßnahme offenbar geeignet ist, sowohl Rückführungen zu erleichtern als auch den Wechsel von der Sozialhilfe in den Arbeitsmarkt zu beschleunigen. Auch andere Landkreise berichten von einer weitgehenden Akzeptanz. In etwa zwei Prozent der Fälle kam es zu Ablehnung oder Konflikten, beispielsweise aufgrund mangelnder Lesefähigkeit der Karteninhaber oder kultureller Vorbehalte gegenüber digitaler Zahlung.
Kritik von Menschenrechtsorganisationen und Experten
Trotz der ersten positiven Effekte bleibt die Kritik an der Bezahlkarte laut. Organisationen wie PRO ASYL werfen der Politik vor, unter dem Deckmantel der Effizienz massive Einschränkungen der Selbstbestimmung vorzunehmen. Besonders bemängelt werden folgende Punkte:
- Einschränkung der persönlichen Freiheit: Die Obergrenze von 50 Euro Bargeld pro Monat reicht laut Kritikern nicht aus, um etwa einen Friseurbesuch oder Fahrten in abgelegenere Orte zu ermöglichen.
- Stigmatisierung: Die spezielle Karte für Geflüchtete könne zur sozialen Ausgrenzung führen, etwa wenn sie beim Bezahlen im Geschäft als „anders“ wahrgenommen werden.
- Integrationshemmung: Der Zwang zur Kartennutzung sei kein Anreiz zur Integration, sondern eine Form der Überwachung, die Misstrauen zwischen Staat und Geflüchteten verstärke.
Wissenschaftliche Einschätzung
Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) warnt vor den langfristigen Folgen. Die Bezahlkarte könne „Integrationsverläufe negativ beeinflussen, wenn sie als Ausdruck von Misstrauen und Kontrolle empfunden wird.“ Zudem sei das Verhältnis von Aufwand zu Nutzen kritisch zu bewerten. Die Implementierung, Prüfung von Härtefällen und individuelle Anpassungen erzeugen hohe Verwaltungs- und Personalkosten, die mögliche Einsparungen durch vermiedene Auslandsüberweisungen schnell relativieren.
Gerichtsurteile werfen Fragen auf
Ein wegweisendes Urteil kam vom Sozialgericht Hamburg: Dort wurde die pauschale Bargeldobergrenze von 50 Euro als unzulässig bewertet. Die Richter forderten eine Einzelfallprüfung, da individuelle Bedürfnisse und Lebensrealitäten berücksichtigt werden müssten. Dieses Urteil könnte auch Auswirkungen auf Thüringen haben und ähnliche Klagen anstoßen. In der juristischen Debatte wird dabei das Spannungsfeld zwischen Gleichbehandlung, Sozialrecht und Menschenwürde immer zentraler.
Vergleich mit internationalen Modellen
Thüringen ist mit der Bezahlkarte nicht allein. Andere Länder haben teils ähnliche, teils kontrastierende Modelle eingeführt:
Land | Modell | Bargeldverfügbarkeit | Zweckbindung |
---|---|---|---|
Vereinigtes Königreich | ASPEN-Card | Teilweise (nur S95-Empfänger) | Ja, eingeschränkt |
Griechenland | UNHCR-Card | Ja (Bankautomaten) | Begrenzt |
Ruanda | MasterCard für Flüchtlinge | Ja | Nein |
Moldawien | Prepaid-System | Ja | Nein |
Während Modelle wie in Ruanda oder Moldawien auf größtmögliche Flexibilität setzen, wird im Vereinigten Königreich eine ähnliche Einschränkung wie in Thüringen praktiziert – mit ebenso kontroverser Bewertung durch Zivilgesellschaft und NGOs.
Öffentliche Meinung und politische Dimension
Laut einer INSA-Umfrage aus dem März 2024 befürworten 77 Prozent der deutschen Bevölkerung die Einführung von Bezahlkarten. Dieser hohe Zuspruch deutet darauf hin, dass viele Bürger in der Maßnahme eine effektive Form der Kontrolle und einen gerechteren Umgang mit Sozialleistungen sehen.
Doch nicht alle politischen Stimmen sind überzeugt. Während konservative Kräfte die Karte als „Zeichen politischer Handlungsfähigkeit“ feiern, warnen linke Parteien vor einer sozialen Schieflage. Die Bezahlkarte sei ein Beispiel für Symbolpolitik, die Probleme im Asylsystem eher verschärfe als löse.
Technische Umsetzung und Kinderkrankheiten
Auch auf technischer Ebene zeigte sich bei der Einführung in Thüringen, wie komplex die Umsetzung sein kann. In mehreren Landkreisen kam es zu Systemausfällen, fehlerhaften Guthabenständen und Problemen bei der Akzeptanz durch Händler. In Rheinland-Pfalz, wo ein ähnliches System parallel eingeführt wurde, konnten Geflüchtete mehrere Tage lang keine Leistungen abrufen, was zu Protesten und Notlagen führte.
Fazit: Zwischen Effizienz, Kontrolle und Menschenwürde
Die Bezahlkarte für Geflüchtete in Thüringen ist mehr als ein technisches Verwaltungsmittel – sie ist ein politisches Symbol. Einerseits dokumentieren erste Erfahrungsberichte, dass die Karte ihre Wirkung nicht verfehlt: weniger Auslandsüberweisungen, mehr Arbeitsaufnahmen, geringerer Bargeldbedarf. Andererseits werfen Kritiker zu Recht die Frage auf, ob Effizienz über die Teilhabe gestellt wird – und ob der Integrationsgedanke nicht unter den pauschalen Einschränkungen leidet.
Ob das Modell Bezahlkarte tatsächlich einen nachhaltigen Beitrag zur Steuerung von Migration und Integration leistet, wird sich erst in den kommenden Jahren zeigen. Klar ist: Die Debatte ist nicht abgeschlossen – weder juristisch, noch gesellschaftlich oder politisch. Und auch in Thüringen bleibt der Spagat zwischen Kontrolle und menschenwürdiger Unterstützung eine dauerhafte Herausforderung.