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Riss in der SPD? Warum führende Bundestagsabgeordnete das Parteimanifest ablehnen

In Aktuelles
Juni 11, 2025
SPD Manifest

11. Juni 2025, 14:30 Uhr

Die innerparteilichen Spannungen innerhalb der SPD erreichen wenige Wochen vor dem Bundesparteitag einen neuen Höhepunkt. Ein von mehr als 100 Mitgliedern des linken Parteiflügels unterzeichnetes Manifest ruft zur Kurskorrektur in der Außen- und Sicherheitspolitik auf – und stößt damit auf vehementen Widerstand aus den Reihen der eigenen Bundestagsfraktion. Während einige das Papier als „lebendige Debattenkultur“ verstehen, sehen andere eine gefährliche Abkehr von sicherheitspolitischer Verantwortung und europäischer Solidarität.

Ein Manifest mit Signalwirkung

Das sechsseitige Papier, das im Umfeld des sogenannten Erhard-Eppler-Kreises entstand, fordert einen grundlegenden Strategiewechsel in der deutschen Außen- und Verteidigungspolitik. Zu den Erstunterzeichnern gehören prominente SPD-Persönlichkeiten wie Ralf Stegner, Rolf Mützenich, Norbert Walter-Borjans und der ehemalige Bundesfinanzminister Hans Eichel. Inhaltlich wendet sich das Manifest entschieden gegen die von der NATO geforderte Erhöhung der Verteidigungsausgaben und warnt vor einer neuen Aufrüstungsspirale.

„Abrüstung statt Aufrüstung“ ist die zentrale Forderung des Manifests, das inmitten geopolitischer Spannungen ein neues sicherheitspolitisches Denken verlangt. Es richtet sich auch ausdrücklich gegen die Stationierung neuer US-Mittelstreckenraketen in Deutschland und fordert eine Rückkehr zur Dialogpolitik mit Russland – nach einem zukünftigen Ende des Ukraine-Krieges.

Zentrale Forderungen im Überblick:

  • Kein Ausbau der Verteidigungsausgaben auf 3,5–5 % des BIP
  • Keine Stationierung neuer US-Raketen in Deutschland
  • Förderung einer neuen Entspannungspolitik mit Russland

Das Papier stellt sich somit nicht nur gegen internationale Verpflichtungen, sondern auch gegen die derzeitige Regierungslinie, die von Verteidigungsminister Pistorius (SPD) sowie von Bundeskanzler Scholz mitgetragen wird.

Heftige Reaktionen aus der SPD-Fraktion

Kaum veröffentlicht, rief das Manifest eine Welle scharfer Kritik innerhalb der eigenen Reihen hervor. SPD-Außenpolitiker Adis Ahmetovic bezeichnete das Papier als „inhaltlich in weiten Teilen fragwürdig“ und stellte klar, dass es nicht die Position der SPD-Bundestagsfraktion widerspiegele. Noch deutlicher wurde der Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler, der via Social Media scharf kommentierte:

„Jetzt gerade? WTF? Kooperation mit einem Kriegsverbrecher? Gute Nacht.“

Auch Matthias Miersch, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, warnte vor einer realitätsfernen Politik. Die Bedrohung durch Russland sei konkret und müsse durch glaubhafte Verteidigungsbereitschaft beantwortet werden. Innerhalb der Fraktion macht sich offenbar zunehmend Irritation über die Vorgehensweise der Manifest-Verfasser breit – auch weil einige davon wiederholt inoffizielle Gespräche mit russischen Funktionären geführt haben sollen.

Geheime Russland-Kontakte sorgen für Misstrauen

Besonders brisant ist die Enthüllung, dass Ralf Stegner und andere Beteiligte des Manifests in den letzten Monaten mehrfach privat mit hochrangigen russischen Akteuren – unter anderem in Aserbaidschan – zusammentrafen. Diese Treffen erfolgten außerhalb des parlamentarischen Rahmens und ohne Mandat, was parteiintern Fragen zur Transparenz und Loyalität aufwirft. Es mehren sich die Stimmen, die in diesen inoffiziellen Dialogen eine Gefährdung der außenpolitischen Geschlossenheit sehen.

Die Rolle des Erhard-Eppler-Kreises

Der Erhard-Eppler-Kreis, aus dem das Manifest hervorgeht, versteht sich als linkes Korrektiv innerhalb der SPD. Bereits in der Vergangenheit hatte er wiederholt eigene Positionen gegenüber der Regierungslinie formuliert – etwa zu sozialer Gerechtigkeit, Friedenspolitik und Klimaschutz. Mit dem neuen sicherheitspolitischen Impuls will er an das Vermächtnis einer sozialdemokratischen Entspannungspolitik anknüpfen, wie sie in den 1970er Jahren unter Willy Brandt begann.

Allerdings trifft dieses politische Selbstverständnis heute auf eine sicherheitspolitisch veränderte Weltlage, die viele der alten Konzepte infrage stellt. Kritiker werfen dem Manifest daher vor, in einer sicherheitspolitischen Nostalgie zu verharren, die den heutigen Realitäten nicht mehr gerecht wird.

Verteidigungsausgaben im Fokus

Der Streit um das Manifest reiht sich ein in eine breitere Debatte über Deutschlands Verteidigungsetat. Während konservative Politiker wie CDU-Mann Johann Wadephul zuletzt eine Erhöhung der Militärausgaben auf bis zu 5 % des BIP forderten – was rund 225 Milliarden Euro jährlich bedeuten würde –, kritisieren linke Kräfte diese Forderungen als ökonomisch und sicherheitspolitisch unverantwortlich.

Vergleich Verteidigungsausgaben (BIP-Anteil, Stand 2024):

LandVerteidigungsausgaben (in % des BIP)
USA3,9 %
Polen3,2 %
Frankreich2,1 %
Deutschland1,7 %
NATO-Durchschnitt2,5 %

Das 2022 beschlossene Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro wird derzeit vor allem für Großprojekte wie den A400M, den Eurofighter oder bewaffnete Drohnensysteme verwendet. Viele dieser Programme sind jedoch von jahrelangen Verzögerungen und Kostensteigerungen betroffen.

Koalitionsklima unter Druck

Die Veröffentlichung des Manifests kommt zu einem heiklen Zeitpunkt: In wenigen Wochen findet der SPD-Parteitag statt, und kurz darauf folgt der NATO-Gipfel, bei dem Deutschland seine Verteidigungsverpflichtungen erneut bekräftigen soll. Mehrere Stimmen aus der Ampel-Koalition zeigen sich irritiert. Grüne und FDP fordern klare Positionierungen gegenüber dem NATO-Bündnis und warnten bereits vor „Wunschdenken“ im linken Lager.

Die FDP hält das Papier für gefährlich rückwärtsgewandt, während die Grünen-Fraktionsvize Agnieszka Brugger betont, Deutschland dürfe sich angesichts internationaler Bedrohungen nicht naiv geben. Der politische Flurschaden scheint parteiübergreifend beträchtlich.

SPD in der Vertrauenskrise

Die innerparteiliche Auseinandersetzung findet vor dem Hintergrund historisch schwacher Umfragewerte statt. Bei der letzten Bundestagswahl erreichte die SPD nur 16,4 Prozent – ein Wert, der viele Mitglieder alarmiert. Besonders im Osten Deutschlands wanderten viele Wähler zur AfD, im Westen profitieren Union und BSW.

Eine Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, dass viele traditionelle SPD-Wähler heute Zweifel an der sicherheitspolitischen Klarheit der Partei hegen. Das Manifest ist somit auch Ausdruck eines strategischen Richtungsstreits: Will die SPD zurück zu pazifistischen Wurzeln – oder sich als staatstragende Regierungspartei in einer Zeitenwende neu definieren?

Zwischen Traditionspflege und Realitätsschock

Das Manifest des linken SPD-Flügels hat eine überfällige, aber hochbrisante Debatte ausgelöst. Es gibt innerhalb der Partei ein spürbares Bedürfnis nach politischer Neuverortung – insbesondere im Umgang mit Fragen von Krieg, Frieden und internationaler Verantwortung. Doch die Brüche verlaufen tief, nicht nur zwischen den Flügeln der SPD, sondern auch zwischen Regierungsverantwortung und Basisloyalität.

Ob das Papier zur tatsächlichen Kurskorrektur führt oder sich letztlich als symbolischer Protest eines zunehmend marginalisierten Flügels herausstellt, wird sich auf dem Bundesparteitag zeigen. Sicher ist: Die SPD steht vor einer entscheidenden Weggabelung – sicherheitspolitisch, strategisch und emotional.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.