29 views 12 mins 0 Kommentare

Kinderrechte bedroht Digitale Kinderarbeit nimmt weltweit zu

In Allgemein
November 05, 2025

Genf, 5. November 2025 – Es ist still im Raum, nur das Klicken der Tastatur ist zu hören. Auf dem Bildschirm eines Teenagers flackern Likes, Emojis und Werbebanner – Routine für Millionen Kinder, die täglich online arbeiten, ohne es zu wissen. Terre des Hommes warnt nun vor einer neuen Form von Ausbeutung: der digitalen Kinderarbeit.

Ein wachsendes, unsichtbares Phänomen

Weltweit sind laut Terre des Hommes rund 160 Millionen Kinder in irgendeiner Form von Arbeit tätig, etwa die Hälfte davon unter gefährlichen Bedingungen. Diese Zahl allein ist alarmierend – doch die Organisation weist darauf hin, dass sich Kinderarbeit zunehmend in digitale Räume verlagert. Onlineplattformen, soziale Medien und datengetriebene Dienstleistungen schaffen neue Formen von Arbeit, die kaum kontrolliert werden.

„Kinderrechte müssen auch im digitalen Raum gelten“, fordert Terre des Hommes in einem internationalen Statement an die Vereinten Nationen. Jedes dritte Internetnutzerkonto gehöre heute einem Kind – ein Umstand, der digitale Verantwortung zur globalen Pflicht mache. Der Begriff digitale Kinderarbeit beschreibt Tätigkeiten, bei denen Minderjährige durch Online-Aktivitäten wirtschaftlich ausgebeutet oder instrumentalisiert werden. Das kann das Posten von Inhalten auf Social Media, das Annotieren von Daten oder das Arbeiten in Klickfarmen umfassen.

Vom Klick zum Einkommen – wie Kinder im Netz arbeiten

Studien aus Indien, Nigeria und den Philippinen zeigen: Kinder übernehmen online zunehmend Aufgaben wie Datenpflege, Reaktionen auf Social-Media-Posts oder die Produktion von Inhalten, oft im Auftrag Dritter. Diese Form der Arbeit ist meist unsichtbar und schwer nachzuweisen. Anders als in Fabriken oder auf Feldern geschieht sie in Schlafzimmern und Internetcafés, verborgen hinter Bildschirmen.

Der Begriff „digital child labour“ taucht erstmals in wissenschaftlichen Untersuchungen Mitte der 2020er Jahre auf. Forscherinnen beschreiben Kinder, die über Smartphones, Tablets oder Computer Teil globaler Produktionsketten werden – nicht als Produzenten von Gütern, sondern von Aufmerksamkeit, Daten und Reichweite. Besonders häufig betroffen sind Länder mit hoher Internetdurchdringung und schwacher Regulierung.

Kidfluencer: Wenn Kindheit zum Geschäftsmodell wird

Eine der sichtbarsten Formen digitaler Kinderarbeit ist der sogenannte Kidfluencer-Trend. Millionen Kinder erscheinen in Videos, Reels und Livestreams – oft unter Anleitung ihrer Eltern oder Agenturen. Plattformen wie YouTube, TikTok oder Instagram ermöglichen es, mit kindgerechtem Content hohe Werbeeinnahmen zu erzielen. Doch hinter den bunten Kulissen steckt oft ein eng getakteter Produktionsalltag.

Eine aktuelle Studie mit dem Titel „The Child Labor in Social Media“ beschreibt fünf zentrale Risiken: fehlende Zustimmung der Kinder, Verwischung von Freizeit und Arbeit, psychischer Druck, fehlende finanzielle Beteiligung und dauerhafte Sichtbarkeit im Netz. Forschende sprechen von einer „kommerziellen Kindheit“, in der Privatsphäre zur Ware wird.

Auch Terre des Hommes beobachtet diesen Trend mit Sorge. „Ökonomische Ausbeutung, einschließlich digitaler Arbeit und der Nutzung kindlicher Verwundbarkeit für kommerzielle Zwecke, ist eine reale Gefahr“, heißt es in einer Stellungnahme der Organisation. Das Problem: Während traditionelle Kinderarbeit gesetzlich reguliert ist, bewegen sich viele Onlineaktivitäten in einer Grauzone.

Die neue Unsichtbarkeit der Ausbeutung

Die klassische Kinderarbeit lässt sich beobachten, dokumentieren und verbieten – Kinder, die in Minen oder auf Plantagen schuften, sind sichtbar. Digitale Kinderarbeit dagegen spielt sich meist im Privaten ab, über Konten, die offiziell auf Eltern oder Firmen laufen. Das erschwert Kontrolle und führt dazu, dass Kinderrechte im digitalen Umfeld oft nicht greifen.

Laut einer Untersuchung von F. Siewert (2024) ist genau das der gefährlichste Aspekt: „Im Gegensatz zu physischer Kinderarbeit kann digitale Arbeit jederzeit, überall und von jedem Ort der Welt aus geschehen.“ Das mache sie schwer regulierbar und gleichzeitig attraktiv für Auftraggeber, die günstige Arbeitskraft suchen – oder kostenlose Aufmerksamkeit.

Datenarbeit und Content-Produktion

Neben Social Media tritt eine weitere, weniger bekannte Form digitaler Arbeit auf: das Annotieren, Kategorisieren oder Bewerten von Daten für KI-Trainingssysteme. Kinder, besonders in ärmeren Regionen, übernehmen solche Aufgaben über Onlineplattformen, um Einkommen für ihre Familien zu sichern. Der Zugang erfolgt oft über Subunternehmen, die kaum prüfen, ob die Teilnehmenden volljährig sind.

Zudem zeigen Untersuchungen, dass Kinder in Ländern mit wachsender Digitalwirtschaft – etwa Indonesien oder Bangladesch – zunehmend digitale Geräte für unbezahlte Tätigkeiten einsetzen. In manchen Regionen steigen die durchschnittlichen „Arbeitszeiten“ von Kindern um mehrere Stunden pro Woche, ohne dass diese als solche erfasst werden.

Psychische Belastung und rechtliche Lücken

Die Risiken sind nicht nur ökonomischer Natur. Digitale Kinderarbeit geht häufig mit erheblichem psychischem Druck einher. Likes und Klickzahlen ersetzen Feedback und Anerkennung, während Fehler oder sinkende Reichweiten unmittelbar erlebt werden. Viele Kinder berichten laut Terre des Hommes von Schlafproblemen, Konzentrationsstörungen und sozialer Überforderung.

Juristisch bleibt das Phänomen bislang weitgehend unreguliert. In den meisten Ländern gelten Arbeitsgesetze nur für klassische Beschäftigungsverhältnisse. Onlineaktivitäten von Minderjährigen fallen oft nicht darunter. Selbst dort, wo Plattformen Mindestalter oder Elternfreigaben vorschreiben, fehlen verbindliche Kontrollen. Kinder, die in Videos oder Livestreams auftreten, gelten meist als Teil familiärer Projekte – nicht als Erwerbstätige.

Wenn der Datenschutz versagt

Ein weiteres Problem betrifft den Umgang mit persönlichen Daten. Kinder liefern in sozialen Netzwerken und Online-Plattformen riesige Mengen an Bild-, Video- und Verhaltensdaten. Diese können – so warnt Terre des Hommes – nicht nur kommerziell, sondern auch missbräuchlich genutzt werden. Mit der Verbreitung generativer KI entstehen zusätzliche Gefahren: Künstliche Systeme erzeugen kindliche Darstellungen, die missbräuchliche Nachfrage fördern und reale Kinder gefährden können.

Die Organisation fordert deshalb, dass Unternehmen gesetzlich verpflichtet werden, Kinderrechte beim Design digitaler Produkte zu berücksichtigen – „by default and by design“. So sollen Risiken bereits bei der Entwicklung minimiert werden, statt erst im Schadensfall reagiert zu werden.

Warum das Problem so schwer zu fassen ist

Eine häufige Nutzerfrage lautet: Wie häufig kommt digitale Kinderarbeit überhaupt vor? – Die Antwort ist ernüchternd: belastbare Zahlen gibt es nicht. Während die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) detaillierte Statistiken zur physischen Kinderarbeit führt, fehlt für die digitale Dimension bislang jede systematische Erfassung. Forschende sprechen von einer „versteckten Pandemie“, deren Ausmaß sich nur schätzen lässt.

Terre des Hommes betont, dass das Ziel der UN-Nachhaltigkeitsagenda, Kinderarbeit bis 2025 zu beenden, unter den aktuellen Bedingungen kaum erreichbar ist. Digitale Arbeitsformen verlagern Ausbeutung in Bereiche, die der Öffentlichkeit entzogen bleiben. Die Verbindung von Armut, Internetzugang und Plattformökonomie schaffe ein perfektes Umfeld für unkontrollierte Beschäftigung Minderjähriger.

Experten fordern klare Regeln

Organisationen, Wissenschaft und Politik fordern deshalb ein neues rechtliches Fundament. Dazu gehören:

  • die Einbeziehung digitaler Tätigkeiten in bestehende Kinderarbeitsgesetze,
  • Transparenzpflichten für Plattformen über die Monetarisierung von Kinder-Content,
  • Schaffung von Treuhandkonten, um Einnahmen von Kinder-Influencern zu sichern,
  • Ausbau der digitalen Bildung für Eltern und Kinder,
  • sowie internationale Kooperation bei der Regulierung globaler Plattformen.

„Kinder sollen am digitalen Leben teilhaben dürfen – aber sicher“, erklärt ein Sprecher von Terre des Hommes. Die Organisation fordert verbindliche Standards, die ökonomische Ausbeutung, Belästigung und Datenmissbrauch zugleich verhindern.

Zwischen Spiel, Arbeit und Verantwortung

Viele Kinder sehen ihre Online-Aktivitäten nicht als Arbeit. Sie drehen Videos, spielen, posten, kommentieren – oft mit echtem Spaß. Doch wenn daraus systematische Inhalte, Sponsoringverträge oder tägliche Drehpläne entstehen, verschwimmen die Grenzen. Expertinnen sprechen deshalb von einem „fließenden Übergang zwischen Spiel und Erwerb“. Das macht Regulierung so komplex.

Die Soziologin Freitas nennt das Internet einen „Raum permanenter Arbeit“, in dem Kinder nicht nur konsumieren, sondern selbst produzieren – Daten, Aufmerksamkeit, Identitäten. Diese Produktion werde von Plattformen und Werbesystemen in Geld verwandelt, ohne dass die Kinder davon profitieren. Das, so Freitas, sei „die unsichtbare Ökonomie der Kindheit“.

Wie Eltern und Gesellschaft reagieren können

Eltern tragen eine Schlüsselrolle. Viele sind sich der Risiken nicht bewusst oder unterschätzen sie. Laut einer TDH-Studie wissen über 60 Prozent der Eltern nicht, welche Plattformen ihre Kinder regelmäßig nutzen oder welche Inhalte sie dort erstellen. Bildungsinitiativen sollen helfen, digitale Kompetenzen zu stärken und Sensibilität für Ausbeutungsmechanismen zu schaffen.

Auch Konsumenten tragen Verantwortung. Likes, Klicks und Kommentare sind Teil des wirtschaftlichen Systems, das Kinderinhalte profitabel macht. Der bewusste Umgang mit Medienkonsum, transparente Kennzeichnung und gesellschaftliche Debatte könnten helfen, Missbrauch einzudämmen.

Ein globales Thema ohne Grenzen

Digitale Kinderarbeit ist kein Problem einzelner Länder. Sie betrifft den globalen Norden ebenso wie den Süden – vom Influencer-Kind in den USA bis zum Datenannotator in Südostasien. Gemeinsamer Nenner: fehlende Schutzmechanismen, mangelnde Regulierung und ein Markt, der Kinder unsichtbar produktiv macht.

In einer zunehmend digitalisierten Welt fordert Terre des Hommes deshalb ein Umdenken: Kinder sollen nicht länger als Nutzer, sondern als Schutzbedürftige mit eigenen Rechten betrachtet werden. Nur so könne verhindert werden, dass die nächste Generation in digitalen Arbeitsstrukturen gefangen bleibt, die sie selbst kaum versteht.

Ein Blick nach vorn

Die Warnung von Terre des Hommes markiert einen Wendepunkt in der Debatte um Kinderarbeit. Während Regierungen weltweit versuchen, physische Ausbeutung zu bekämpfen, entsteht im Schatten der Bildschirme eine neue, schwer greifbare Realität. Sie verlangt nicht nur Gesetze, sondern ein Bewusstsein dafür, dass digitale Teilhabe auch Verantwortung bedeutet – für Plattformen, Eltern, Gesellschaft und Politik.

Ob sich die Weltgemeinschaft dieser Verantwortung stellt, wird entscheiden, ob das Versprechen, Kinderarbeit bis 2025 zu beenden, im digitalen Zeitalter noch Bestand haben kann.

Avatar
Redaktion / Published posts: 2976

Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.