
Stuttgart – Die Tunnelbaustelle im Zentrum der Landeshauptstadt ist derzeit das Herzstück eines der ambitioniertesten Infrastrukturprojekte Deutschlands. Hunderte Arbeiter sind im Einsatz, während die wichtigste Verbindung des öffentlichen Nahverkehrs für mehrere Wochen komplett gesperrt ist. Doch was genau passiert unter Tage – und wie betrifft das die Menschen in der Region?
Eine Stadt im Umbau: Die Sommer-Baustelle mit System
Seit dem 26. Juli 2025 ist die S-Bahn-Stammstrecke in Stuttgart erneut gesperrt – zum mittlerweile fünften Mal in Folge während der Sommerferien. Der Zeitraum ist bewusst gewählt: Weniger Schul- und Pendlerverkehr sollen helfen, die Belastung für die Fahrgäste zu reduzieren. Doch dieses Mal ist das Ausmaß größer denn je: Auf der Strecke zwischen Hauptbahnhof (tief) und Vaihingen herrscht Stillstand, Hunderte Arbeiter sind im Tunnel im Dauereinsatz.
Die S-Bahn-Stammstrecke, auch bekannt als Verbindungsbahn, gilt als neuralgischer Punkt des öffentlichen Verkehrsnetzes in der Region Stuttgart. Täglich nutzten zuletzt über 350.000 Menschen diese zentrale Verbindung. Dass sie nun für sechs Wochen stillsteht, ist kein kleines Unterfangen – es ist Teil einer viel größeren Zukunftsvision.
Was genau passiert im Tunnel?
Herzstück der aktuellen Bauarbeiten ist die technische Modernisierung der Leit- und Sicherungssysteme. Dabei wird das europäische Zugsicherungssystem ETCS (European Train Control System) installiert, das langfristig eine präzisere Steuerung, höhere Taktung und bessere Auslastung der Strecke ermöglichen soll. Ziel ist es, statt bisher maximal 24 künftig bis zu 32 Züge pro Stunde im Tunnel fahren zu lassen – eine enorme Steigerung der Kapazität.
Zusätzlich wird an neuen Kabeltrassen, Digitalen Stellwerken und weiteren technischen Komponenten gearbeitet, die den sogenannten „Digitalen Knoten Stuttgart“ ermöglichen sollen. Dieses bundesweite Pilotprojekt soll Vorbild für andere Metropolregionen werden.
Hunderte Fachkräfte im Schichtbetrieb
Während der Bauphase arbeiten Hunderte Fachkräfte in Drei-Schicht-Systemen unter Hochdruck im Tunnel. Sie verlegen Kabel, installieren digitale Technik, prüfen bestehende Komponenten und koordinieren mit Ingenieuren und IT-Spezialisten jede Maßnahme bis ins Detail. Fotografien aus der Tunnelmitte zeigen ein hochgradig koordiniertes Zusammenspiel von Mensch und Maschine – der Tunnel ist derzeit mehr Hightech-Baustelle als Schienenweg.
Welche Einschränkungen gibt es für Fahrgäste?
Viele Bürgerinnen und Bürger fragen sich in dieser Zeit ganz konkret:
„Fallen bestimmte S-Bahn-Linien oder Haltestellen aus?“
Ja. Während der Bauphase werden die Stationen Hauptbahnhof (tief), Stadtmitte, Feuersee, Schwabstraße, Universität und Österfeld nicht angefahren. Auch im Raum Bad Cannstatt gibt es Einschränkungen: Hier finden ebenfalls umfangreiche Bauarbeiten an Bahnsteigen, Oberleitungen und Gründungen statt.
Zusätzlich sind im Regionalverkehr zahlreiche Linien betroffen: So entfällt etwa der RE6 zwischen Stuttgart und Tübingen vollständig, während andere Linien nur noch in Teilabschnitten verkehren oder auf andere Bahnhöfe umgeleitet werden. Das betrifft unter anderem die Linien MEX12, MEX17, RB11 und MEX90.
„Wie häufig fährt der Ersatzverkehr (SEV) während der Stammstreckensperrung?“
Um die Einschränkungen zu kompensieren, wurden Ersatzbuslinien eingerichtet. Diese verkehren auf der Strecke zwischen Stuttgart Hauptbahnhof (Arnulf-Klett-Platz) und Vaihingen. Der Takt wurde auf zehn Minuten festgelegt, in den Hauptverkehrszeiten sogar auf fünf Minuten. Zusätzlich pendeln RE-Züge zwischen Böblingen und Stuttgart sowie weiterführend nach Rottweil und Freudenstadt im Zwei-Stunden-Takt.
Warum diese Maßnahme? Der Blick hinter die Kulissen
„Wozu braucht es die Bauarbeiten an der S-Bahn-Stammstrecke?“
Die Antwort liegt in der Zukunft: Stuttgart bereitet sich auf das Großprojekt „Stuttgart 21“ vor – ein Umbau des Bahnknotens, der den Verkehr der Region grundlegend verändern soll. Die Stammstrecke muss dafür fit gemacht werden. Das bedeutet nicht nur den Austausch alter Technik, sondern auch die Integration neuer Bahnhöfe wie der Station Mittnachtstraße im entstehenden Rosensteinviertel.
Dort sollen künftig täglich über 20.000 Menschen direkt ein- und aussteigen können. Die Fahrzeit in die Innenstadt verkürzt sich durch diese neue Station erheblich – gleichzeitig wird der Verkehrsknoten Hauptbahnhof entlastet. All das erfordert komplexe technische Vorarbeiten, die jetzt im Tunnel stattfinden.
Digitaler Knoten Stuttgart: Das große Ganze
Die Tunnelbaustelle ist Teil des langfristigen Projekts „Digitaler Knoten Stuttgart“. Ziel ist es, den Bahnbetrieb in der gesamten Region zu automatisieren, zu digitalisieren und zu beschleunigen. Zentrale Elemente sind:
- Einführung des ETCS-Zugsicherungssystems (Level 2)
- Digitale Stellwerke mit integrierter Leitstellenlogik
- Automated Train Operation (ATO) – also teilautomatisiertes Fahren
- Fernsteuerung über das neue Kommunikationssystem FRMCS
Diese Komponenten sollen bis spätestens 2032 vollständig in Betrieb sein. Der digitale Bahnknoten ist dabei nicht nur ein Projekt der Deutschen Bahn, sondern auch von Bund, Land und Region getragen.
Stimmen aus der Bevölkerung: Frust, Hoffnung, Routine
„Welche Sonderregelungen gelten während der Bauarbeiten?“
Um die Einschränkungen abzufedern, wurden verschiedene Maßnahmen beschlossen. So darf das Fahrrad montags bis freitags vorübergehend bis 8:30 Uhr (statt 9:00 Uhr) ohne zusätzliches Ticket mitgenommen werden. Zudem gilt: Wer ein DB-Ticket besitzt, darf auch mit Stadtbahnen der SSB fahren – ohne Zusatzkosten.
Doch nicht alle sind zufrieden: In Online-Foren und Reddit-Diskussionen wird deutlich, dass viele Pendler die wiederholten Sommerbaustellen kritisch sehen. Einer schreibt: „So oft wie die Stammstrecke inzwischen kurzfristig gesperrt wird, und es von der Bahn nicht mal ein Entgegenkommen oder eine Entschuldigung gibt …“ Die Stimmung schwankt zwischen Akzeptanz, Frustration und Gleichgültigkeit – ein Spiegelbild der oft schwierigen Beziehung zwischen öffentlichem Verkehr und Alltag.
Ein Blick auf das Kommende
Auch wenn die jetzige Sperrung am 6. September endet, ist noch lange nicht Schluss. Bereits für 2026 und 2027 sind weitere Bauphasen angekündigt. Dabei geht es um Restarbeiten, technische Umstellungen und die Integration weiterer Strecken – unter anderem auch durch den neuen Pfaffensteigtunnel, der langfristig die Gäubahn und den Flughafen besser anbinden soll.
„Wie sind die Zugverbindungen, insbesondere Pendelverkehr mit RE-Zügen?“
Während der Bauzeit wurde ein stündlicher Regionalexpress-Pendelverkehr zwischen Böblingen und Stuttgart eingerichtet, mit Halt in Vaihingen. Zudem verkehren alle zwei Stunden durchgehende Züge bis Rottweil oder Freudenstadt – ebenfalls via Vaihingen. Diese Übergangslösungen sollen die tägliche Mobilität trotz Einschränkungen sicherstellen.
Fahrgastentwicklung: Trotz Baustellen im Plus
Überraschenderweise zeigt die aktuelle Statistik: Die S-Bahn Stuttgart konnte ihre Fahrgastzahlen im Jahr 2024 sogar steigern – auf über 104 Millionen Fahrgäste. Das entspricht einem Zuwachs von drei Prozent gegenüber dem Vorjahr. Verantwortlich dafür sind laut Verkehrsverbund Stuttgart (VVS) vor allem flexible Umleitungskonzepte, verbesserte Kommunikation und die zunehmende Vertrautheit der Fahrgäste mit wiederkehrenden Baumaßnahmen.
Technik vs. Realität: Das doppelte Spiel der Modernisierung
Einige Fachleute und Pendler diskutieren inzwischen kontrovers über die tatsächliche Wirksamkeit von ETCS. Zwar verspricht die Technik mehr Züge und weniger Verspätung, doch in Foren liest man: „Mehr Züge im Tunnel sind nicht automatisch besser – jeder Zug ist ein potenzieller Stauverursacher.“ Es bleibt abzuwarten, ob der digitale Fortschritt tatsächlich die Versprechen erfüllt, die damit verbunden sind.
Langsamer Fortschritt oder cleverer Zeitplan?
Die fortlaufenden Sperrungen werfen auch Fragen nach Planung, Transparenz und Kommunikation auf. Viele Bürger hätten sich frühzeitigere Informationen oder ein zentrales Informationsportal mit Prognosen gewünscht. Auch Kritik aus den Regionalräten macht die Runde – dort beklagt man mangelnde Abstimmung und späte Informationspolitik gegenüber betroffenen Kommunen und Fahrgästen.
Ein gigantisches Puzzle auf der Zielgeraden
Ob man die aktuellen Maßnahmen als notwendiges Übel oder als zukunftsweisende Investition betrachtet, hängt stark vom persönlichen Standpunkt ab. Klar ist: Die Modernisierung des Stuttgarter S-Bahn-Netzes ist ein gigantisches Puzzle, das nur über Jahre hinweg zusammengesetzt werden kann. Die diesjährige Sommerbaustelle ist ein weiteres wichtiges Teilstück auf dem Weg in eine vernetzte, digitalisierte Mobilität der Zukunft.
Wer in den kommenden Jahren durch Stuttgart fahren möchte, braucht also weiterhin Geduld – und Vertrauen in ein System, das derzeit unter der Erde eine neue Zeitrechnung vorbereitet.