
Karlsruhe, 7. Juni 2025, 21:20 Uhr
Mit über 18.000 Beteiligten hat der Christopher Street Day (CSD) in Karlsruhe ein starkes Zeichen gesetzt – für Sichtbarkeit, Gleichberechtigung und gegen die zunehmende gesellschaftliche Spaltung. Die Veranstaltung, die weit mehr als ein farbenfrohes Fest war, stand ganz im Zeichen des diesjährigen Mottos: „Nie wieder still!“. Damit reihte sich der Karlsruher CSD in eine bundesweite Kampagne ein, die zur Bundestagswahl 2025 queerpolitische Forderungen auf die Agenda hebt – mit Nachdruck und klarer Haltung.
Ein Tag, zwei Gesichter: Feier und Protest zugleich
Schon am frühen Samstagvormittag füllte sich der Marktplatz mit Menschen unterschiedlichster Herkunft, Altersgruppen und Identitäten. Die Atmosphäre war ausgelassen und herzlich. Kinder mit Regenbogenfahnen spielten vor der Bühne, ältere Paare hielten sich an den Händen, junge Menschen tanzten zu lauter Musik. Doch unter dem bunten Glitzer lag ein ernster Unterton: Der CSD in Karlsruhe war von Beginn an auch Protest – gegen Queerfeindlichkeit, gesellschaftliche Rückschritte und politische Ignoranz.
Die Veranstalter betonten in ihrer Eröffnungsrede, dass die Freude über die gewachsene Community nicht darüber hinwegtäuschen dürfe, wie gefährdet Grundrechte für queere Menschen wieder seien. „Wir feiern unsere Sichtbarkeit, aber wir marschieren auch, weil wir uns wehren müssen“, so Karsten Kremer vom veranstaltenden Verein CSD Karlsruhe e.V.
Wachsender Zulauf: Teilnehmerzahlen erreichen Rekordniveau
Mit rund 11.000 Teilnehmenden an der Demo und über 18.000 Menschen insgesamt beim CSD-Wochenende verzeichnete Karlsruhe einen historischen Höchststand. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet das einen Zuwachs von über 25 Prozent. Der Demonstrationszug umfasste 36 Gruppen – darunter lokale Initiativen, bundesweite Organisationen und internationale Partner.
Die Route führte vom Rondellplatz über die Karlstraße, Kaiserstraße bis zum Schlossplatz und Marktplatz, wo politische Reden, Infostände und ein vielfältiges Bühnenprogramm für Aufmerksamkeit sorgten.
Statistische Entwicklung (2019–2025)
Jahr | Teilnehmende (Demo) | Zuschauer*innen | Gesamtbeteiligung |
---|---|---|---|
2019 | ca. 3.500 | ca. 4.000 | 7.500 |
2022 | ca. 6.000 | ca. 7.000 | 13.000 |
2025 | ca. 11.000 | ca. 7.000 | 18.000+ |
Politische Forderungen im Zentrum der Bewegung
Das diesjährige Motto „Nie wieder still!“ war nicht nur ein Appell zur Sichtbarkeit, sondern Teil der bundesweiten Initiative „Wähl Liebe“. Diese formuliert drei zentrale Forderungen:
- Verankerung eines umfassenden Diskriminierungsschutzes im Grundgesetz (über Artikel 3 hinaus)
- Dauerhafte Förderung queerer Beratungsstellen und Schutzräume
- Konsequente Strafverfolgung und Prävention queerfeindlicher Gewalt und Hatespeech
Diese Forderungen wurden von vielen Redner*innen aufgegriffen, unter ihnen auch Prof. Dr. Rose Marie Beck, die amtierende Rektorin der Hochschule Karlsruhe und diesjährige Schirmherrin der Veranstaltung. Sie betonte: „Freiheit und Sicherheit sind keine Selbstverständlichkeit. Wer schweigt, macht sich mitschuldig.“
Diskussionen um Ausgrenzung und Zusammenhalt
Für hitzige Debatten sorgte die Entscheidung der Veranstalter, den Info-Stand der LSU (Lesben und Schwule in der Union) vom Familienfest auszuschließen. Der Vorwurf: mangelnde Abgrenzung gegenüber queerfeindlichen Positionen innerhalb der CDU/CSU. Während Vertreter*innen der Partei die Entscheidung als spaltend kritisierten, hielt der CSD e.V. an seiner Haltung fest: „Wir können keine Plattform bieten für Gruppierungen, die uns in der Bundestagsdebatte offen angreifen.“
Die Auseinandersetzung verdeutlichte einmal mehr die Spannungsfelder innerhalb der queeren Bewegung – zwischen Dialog und Abgrenzung, zwischen Parteipolitik und Menschenrechten.
Hinter der Fassade: Bedrohungslage wächst
Parallel zur wachsenden Sichtbarkeit nimmt die Bedrohungslage für queere Menschen in Deutschland deutlich zu. Laut BKA ist die Zahl queerfeindlicher Straftaten im vergangenen Jahr dramatisch gestiegen:
- 1.765 Straftaten gegen sexuelle Orientierung (+18 %)
- 1.152 Straftaten gegen trans- oder nicht-binäre Personen (+35 %)
Diese Zahlen erfassen jedoch nur das Hellfeld – Experten gehen davon aus, dass bis zu 90 % aller Übergriffe gar nicht angezeigt werden. Der LSVD fordert daher eine bundesweite Meldestelle für queerfeindliche Gewalt. Auch die CSD-Veranstalter in Karlsruhe unterstützten diese Forderung mit Nachdruck.
Psychosoziale Dimension: Der CSD als Schutzraum
Für viele Menschen ist der CSD mehr als eine politische Demo oder ein Straßenfest – er ist ein einmal jährlich erfahrbarer Safe Space. Viele Teilnehmer*innen berichten, dass sie nur hier ganz sie selbst sein können. Eine junge nicht-binäre Person formulierte es so:
„Heute kann ich so aussehen und sprechen, wie ich bin. Auf dem Weg zur Schule oder Arbeit muss ich mich jeden Tag schützen, hier nicht.“
In einer Zeit, in der psychische Belastungen in der LGBTQIA+-Community deutlich zunehmen, kommt diesen öffentlichen Räumen eine besondere Bedeutung zu. Studien belegen, dass Diskriminierung, Unsichtbarkeit und Ausgrenzung zentrale Risikofaktoren für Depressionen, Ängste und soziale Isolation darstellen.
Digitalisierung und Community-Organisation
Eine bislang wenig beachtete Dimension des CSD ist die zunehmende Rolle digitaler Plattformen. Bereits Monate vor dem Event wurde über Discord, WhatsApp-Gruppen und Instagram gezielt organisiert, informiert und mobilisiert. Die Online-Community hat sich zu einem effektiven Netzwerk entwickelt, das nicht nur zur Teilnehmer*innenzahl beiträgt, sondern auch spontane Aktionen, Solidaritätsbekundungen und Gegenwehr organisiert.
Rückblick und Ausblick: Zwischen Hoffnung und Ernst
Der Karlsruher CSD 2025 war in vielerlei Hinsicht ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Lage in Deutschland. Einerseits herrschte eine feierliche, hoffnungsvolle Stimmung, getragen von Vielfalt, Kreativität und Engagement. Andererseits zeigten die politischen Reden, die Gegenpositionen und die Berichte über Diskriminierung, wie fragil viele Errungenschaften der letzten Jahrzehnte geworden sind.
Der Appell, nicht still zu bleiben, wurde von den Teilnehmenden angenommen – mit Stimme, Fahne, Trommel und Tanz. Karlsruhe hat gezeigt, dass queeres Leben nicht an den Rand gehört, sondern mitten in die Stadt. Und dass Protest nicht leise bleiben darf, wenn Rechte in Frage gestellt werden.
Fazit: Der CSD bleibt notwendig – und unbequem
In Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung, wachsender Intoleranz und wiedererstarkender rechtsextremer Tendenzen bleibt der CSD ein notwendiger Bestandteil demokratischer Kultur. Er fordert Sichtbarkeit für alle, die oft übersehen, diskriminiert oder bedroht werden. Und er erinnert Politik und Gesellschaft daran, dass Gleichberechtigung kein Ziel von gestern ist, sondern eine tägliche Aufgabe.
Karlsruhe hat diese Botschaft eindrucksvoll vermittelt. Und viele Stimmen, Plakate und Tänze riefen das aus, was im Zentrum dieses CSD stand:
„Nie wieder still – weil wir nie wieder schweigen dürfen.“