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Rechtliche Lage: Wann darf die USA die Nationalgarde laut Verfassung tatsächlich einschalten

In Aktuelles
Juni 08, 2025
USA Nationalgarde Panzerwagen

Los Angeles, 08. Juni 2025, 11:30 Uhr 

Der Einsatz der Nationalgarde in Los Angeles sorgt seit Tagen für intensive Diskussionen über Rechtmäßigkeit, Verfassungsgrenzen und politische Motivationen. Ausgelöst wurde der Einsatz durch anhaltende Proteste gegen die Maßnahmen der Bundesbehörden zur Einwanderungskontrolle. Präsident Trump reagierte mit der Entsendung von rund 2.000 Nationalgardisten in die Metropole – gegen den ausdrücklichen Willen des kalifornischen Gouverneurs Gavin Newsom.

Der Auslöser: Proteste eskalieren, Washington greift ein

Bereits in den frühen Tagen des Monats kam es in mehreren Stadtteilen von Los Angeles zu größeren Protestaktionen gegen die amerikanische Einwanderungspolitik. Besonders umstritten war eine ICE-Razzia in South Central, die Videoaufnahmen zufolge mit Gewalt gegen Minderjährige durchgeführt wurde. Binnen weniger Stunden formierten sich Demonstrationen, die sich teils mit anderen Bewegungen wie „Abolish ICE“ verbanden. In der Folge kam es zu brennenden Barrikaden, Angriffen auf Bundesgebäude und Zusammenstößen mit der Polizei.

Am 7. Juni kündigte das Weiße Haus den Einsatz der Nationalgarde an. Die Truppen wurden unter Berufung auf das Bundesgesetz Title 10 aktiviert – ein Schritt, der in juristischer Hinsicht umstritten ist, da der betroffene Bundesstaat Kalifornien sich klar gegen den Einsatz positionierte.

Juristische Grundlagen: Title 10, Posse Comitatus und der Insurrection Act

Der Einsatz wirft grundlegende Fragen nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit auf. Dabei stehen drei rechtliche Elemente im Fokus:

Title 10: Föderale Hoheit über die Nationalgarde

Unter Title 10 des United States Code kann der Präsident Nationalgarde-Einheiten in Bundeshoheit versetzen. Dies geschieht üblicherweise mit Zustimmung des betroffenen Bundesstaats. Doch im aktuellen Fall wurde Kalifornien übergangen. Juristen sehen hierin einen möglichen Präzedenzfall für eine einseitige Machtübernahme durch die Bundesregierung im Innern.

Insurrection Act: Kein formeller Notstand

Der Insurrection Act erlaubt dem Präsidenten, bei Aufständen, Rebellionen oder der Unfähigkeit eines Bundesstaats, Gesetze durchzusetzen, militärisch zu intervenieren. Dieser wurde im aktuellen Fall jedoch nicht aktiviert – möglicherweise, um eine politische Eskalation zu vermeiden. Kritiker sehen darin jedoch eine bewusste Grauzonenstrategie: Durch den Einsatz von Title 10 ohne formelle Ausrufung des Insurrection Act entzieht sich die Regierung einer klaren verfassungsrechtlichen Prüfung.

Posse Comitatus: Verbot innerstaatlicher Militärgewalt

Der Posse Comitatus Act von 1878 untersagt es der Bundesregierung grundsätzlich, Bundestruppen für zivile Strafverfolgung einzusetzen. Ausnahmen bestehen nur im Rahmen des Insurrection Act oder anderer spezifischer Gesetze. Da in Los Angeles Berichte auftauchten, dass Gardisten bei Festnahmen halfen, könnten hier klare Verstöße vorliegen. Bürgerrechtsorganisationen wie die ACLU kündigten bereits rechtliche Schritte an.

Historische Vergleiche: LA 1992 und George Floyd 2020

Der aktuelle Fall erinnert an zwei historische Einsätze: 1992 wurden nach den Rodney-King-Unruhen über 10.000 Nationalgardisten in Los Angeles eingesetzt. Damals jedoch mit Rückendeckung des Bundesstaats. Im Jahr 2020 kam es im Zuge der George-Floyd-Proteste zu einem flächendeckenden Guard-Einsatz mit über 84.000 Kräften in verschiedenen US-Städten – der größte militärische Inlandseinsatz seit den 1960er-Jahren.

EinsatzjahrAnlassAnzahl eingesetzter GardistenZustimmung des Bundesstaats
1992Rodney King Riotsca. 10.000Ja
2020George Floyd Protesteüber 84.000In Teilen
2025ICE-Proteste in L.A.ca. 2.000Nein

Perspektiven aus Politik und Gesellschaft

Gouverneur Newsom reagierte empört auf den Einsatz. In einem öffentlichen Statement warf er dem Präsidenten vor, „bewusst die Konfrontation mit Kalifornien zu suchen“. Auch Bürgermeisterin Karen Bass erklärte, der Einsatz wirke „nicht deeskalierend, sondern provozierend“. Mehrere demokratische Kongressabgeordnete aus Kalifornien sprachen von einem „verfassungsrechtlichen Skandal“.

Anders die Sicht des Weißen Hauses: Sprecherin Sarah McDowell verteidigte die Maßnahme als „unumgänglich zum Schutz von Bundesbeamten und Einrichtungen“. Man habe mit „störenden Kräften“ zu tun, die nicht länger toleriert werden könnten.

„Wir reden hier nicht von friedlichem Protest – wir reden von systematischer Zerstörung von Bundesbesitz. Der Präsident wird seine Verantwortung wahrnehmen.“ – Sarah McDowell, Pressesprecherin des Weißen Hauses

Verfassungsrechtliche Stimmen und Experteneinschätzungen

Verfassungsrechtler Erwin Chemerinsky sieht in der Maßnahme „eine neue Qualität des föderalen Durchgreifens“ und warnt vor der Normalisierung solcher Einsätze. Steve Vladeck, Professor für nationales Sicherheitsrecht, weist auf die juristische Unsicherheit bei einem Title-10-Einsatz ohne Insurrection Act hin: „Wir betreten verfassungsrechtliches Neuland.“

Auch militärnahe Thinktanks wie das CNAS (Center for a New American Security) sprechen von einer gefährlichen Entwicklung: „Die Verwischung von militärischen und zivilen Rollen im Inneren schwächt das Vertrauen in rechtsstaatliche Strukturen.“

Weitere ungeklärte Fragen und rechtliche Schlupflöcher

Ein besonders umstrittener Aspekt ist der Rückgriff auf Title 32 §502(f), der theoretisch erlaubt, Truppen auf Antrag eines Bundesstaats mit Bundesmitteln zu finanzieren, aber unter Kommando des Gouverneurs zu belassen. Im aktuellen Fall scheint dieses Konstrukt nicht genutzt worden zu sein – stattdessen handelt es sich eindeutig um eine Title-10-Aktivierung mit vollem föderalem Kommando.

Hinzu kommt ein Präzedenzfall aus dem Jahr 1990 (Perpich v. DoD), in dem der Supreme Court entschied, dass der Präsident die Nationalgarde auch ohne Einwilligung eines Gouverneurs für Trainingszwecke im Ausland einsetzen kann. Ob sich dies auf Inlandseinsätze übertragen lässt, ist jedoch juristisch umstritten.

Migrationskontext: Der neue Einsatzrahmen?

Mehrere Analysten sehen im aktuellen Fall eine inhaltliche Verschiebung: Während frühere Nationalgarde-Einsätze meist mit inneren Unruhen, Naturkatastrophen oder Terrorismus in Verbindung standen, scheint hier die Migrationsthematik in den Mittelpunkt zu rücken. Beobachter sprechen von einer „Militarisierung der Einwanderungspolitik“. Sollte sich dieser Trend fortsetzen, könnte es vermehrt zu Einsätzen an der Grenze oder in Städten mit hohem Migrantenanteil kommen.

Gesellschaftliche Auswirkungen und Ausblick

Die langfristigen Folgen des Einsatzes sind derzeit schwer absehbar. Bereits jetzt kündigten mehrere Bürgerrechtsorganisationen Klagen an, um die Rechtmäßigkeit überprüfen zu lassen. Gleichzeitig formiert sich politischer Widerstand im Kongress, mit ersten Initiativen zur Reform des Posse Comitatus Act und zur Klarstellung der Grenzen föderaler Eingriffe.

Für die Gesellschaft stellt sich vor allem die Frage, wie viel militärische Macht im Inneren legitim ist – und wie schnell sich demokratische Prinzipien durch sicherheitspolitische Narrative relativieren lassen. Der Fall Los Angeles könnte zu einem Wendepunkt in der Beziehung zwischen Bundes- und Landesebene werden.

Fazit: Recht, Macht und die Grenzen föderaler Gewalt

Der Einsatz der Nationalgarde in Los Angeles ist mehr als eine sicherheitspolitische Reaktion – er ist Ausdruck eines grundsätzlichen Konflikts über Machtverteilung, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Kontrolle. Während die Bundesregierung sich auf ihre Verantwortung zum Schutz der Ordnung beruft, werfen Kritiker ihr vor, bewusst rechtsstaatliche Grauzonen auszunutzen.

Ob sich dieser Fall als juristischer Präzedenz oder als politischer Tabubruch entpuppt, wird sich erst in den kommenden Wochen zeigen. Klar ist jedoch schon jetzt: Die Debatte um die Rolle des Militärs im Inneren der USA ist neu entbrannt – mit offenen Fragen, tiefen gesellschaftlichen Spaltungen und hoher Sprengkraft für die politische Kultur des Landes.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.