
Stuttgart – Mit Transparenten, Fahnen und Kerzen zogen am Sonntagabend Hunderte Menschen auf den Stuttgarter Marktplatz. Ihr Ziel: ein deutliches Zeichen der Solidarität mit Israel und die Forderung nach der Freilassung aller Geiseln im Gazastreifen. Die Kundgebung vereinte jüdische, christliche und zivilgesellschaftliche Gruppen und stand unter dem Motto „Solidarität mit Israel – gegen jeden Antisemitismus“.
Ein Zeichen zum Jahrestag des 7. Oktober
Der 5. Oktober 2025 war in Stuttgart mehr als nur ein gewöhnlicher Sonntag. Zwei Tage vor dem zweiten Jahrestag des Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 versammelten sich Menschen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Organisationen auf dem Marktplatz, um an die Opfer zu erinnern und ihre Solidarität mit Israel zu bekunden. Dass die Veranstaltung nicht direkt am 7. Oktober stattfand, lag an einem jüdischen Feiertag – die Organisatoren wählten bewusst ein Datum davor, um möglichst vielen Teilnehmenden die Teilnahme zu ermöglichen.
Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Stuttgart (GCJZ), die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) Region Stuttgart und die International Christian Embassy Jerusalem (ICEJ) hatten gemeinsam mit weiteren Partnern zur Kundgebung aufgerufen. Neben Gedenkreden standen Musik, Gebete und persönliche Zeugnisse auf dem Programm. Der Abend wurde von Momenten der Besinnung geprägt – viele Besucher hielten Kerzen, einige trugen Fotos von Entführten oder das israelische Symbolband „Bring them home“.
Die Hauptforderungen der Demonstrierenden
Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand die Forderung nach der sofortigen und bedingungslosen Freilassung aller Geiseln, die sich seit über zwei Jahren in der Gewalt der Hamas befinden. Nach Angaben der israelischen Behörden befinden sich aktuell noch etwa 50 Menschen in Geiselhaft, von denen schätzungsweise 20 am Leben sind. Parallel zu den Protesten in Stuttgart laufen in Ägypten indirekte Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas über eine mögliche Waffenruhe und den Austausch von Gefangenen. Diese politische Brisanz verlieh der Stuttgarter Kundgebung besondere Aktualität.
„Wir dürfen die Geiseln nicht vergessen. Jeder Tag zählt“, sagte ein Sprecher der DIG Stuttgart auf der Bühne. Die Redner:innen machten deutlich, dass das Schicksal der Entführten nicht nur ein israelisches, sondern ein humanitäres Anliegen sei. Auch Vertreter:innen der jüdischen Gemeinden in Baden-Württemberg betonten, wie sehr die Sorge um die Verschleppten die Familien und Gemeinden weltweit belastet.
Wer hinter der Kundgebung steht
Die Kundgebung wurde von der DIG Region Stuttgart und der ICEJ organisiert. Unterstützt wurde sie unter anderem von der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW), der Jüdischen Studierendenunion (JSUW), der Women’s International Zionist Organization (WIZO) sowie der GCJZ Stuttgart. Als Redner:innen traten unter anderem Dr. Michael Blume, der Antisemitismus-Beauftragte des Landes Baden-Württemberg, sowie Vertreterinnen und Vertreter der beteiligten Organisationen auf.
„Wir müssen klar benennen, was Antisemitismus ist – und ihn überall dort bekämpfen, wo er auftritt“, sagte Blume in seiner Ansprache. Die Kundgebung sollte nicht nur an die Geiseln erinnern, sondern auch auf die Zunahme antisemitischer Tendenzen in Deutschland aufmerksam machen. Viele Teilnehmende zeigten sich besorgt über den gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema und betonten die Bedeutung von Empathie und Solidarität.
Antisemitismus in Deutschland: Zahlen und Trends
Seit Beginn des Gaza-Kriegs im Oktober 2023 verzeichnet Deutschland einen dramatischen Anstieg antisemitischer Vorfälle. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) meldete für das Jahr 2024 insgesamt 8.827 antisemitische Taten – das entspricht durchschnittlich 24 Vorfällen pro Tag. Besonders auffällig: Rund 5.857 dieser Fälle hatten einen direkten Bezug zu Israel oder dem Nahostkonflikt. Der Bundesverband RIAS beobachtet zudem eine Verfünffachung israelfeindlicher Proteste seit dem Ausbruch des Krieges.
Eine vom Deutschlandfunk zitierte Studie zeigt außerdem, dass viele jüdische Bürgerinnen und Bürger sich in Deutschland seit dem 7. Oktober 2023 zunehmend ausgegrenzt fühlen. Sie berichten von „sozialer Kälte“ und einer „fehlenden Empathie“ in der Mehrheitsgesellschaft. Diese Erkenntnisse spiegeln sich auch in den Redebeiträgen der Kundgebung wider, wo wiederholt betont wurde, dass Solidarität mit Israel nicht als politische, sondern als moralische Haltung verstanden werden müsse.
Wie hängt die Stuttgarter Demo mit den Verhandlungen in Ägypten zusammen?
Die Demonstration fiel zeitlich mit laufenden Gesprächen in Ägypten zusammen, bei denen Israel und Hamas über eine Waffenruhe und den Austausch von Geiseln verhandeln. In Stuttgart verwiesen mehrere Redner auf die Bedeutung dieser Gespräche, mahnten aber gleichzeitig Skepsis an. Die bisherigen Abkommen seien fragil, hieß es, und dürften nicht über das Leid der Familien hinwegtäuschen, die seit zwei Jahren auf ein Lebenszeichen ihrer Angehörigen warten.
„Solange Menschen in Geiselhaft sind, können wir nicht von Frieden sprechen“, sagte eine Vertreterin der ICEJ Stuttgart. Diese Aussage fand starken Beifall und fasste das zentrale Gefühl vieler Teilnehmender zusammen: Mitgefühl, aber auch Entschlossenheit, das Thema in der Öffentlichkeit wachzuhalten.
Zwischen Solidarität und Gegenprotest
Parallel zur pro-israelischen Kundgebung finden in Stuttgart seit Monaten auch pro-palästinensische Demonstrationen statt. Auf Social-Media-Plattformen wie Instagram und Facebook dokumentieren Gruppen wie „FreePalestineStuttgart“ ihre Aktionen. Bei einem Sit-in in der Innenstadt forderten Aktivist:innen unter anderem die Freilassung inhaftierter Palästinenser:innen und kritisierten die israelische Militärpolitik. In den sozialen Medien prallen die Positionen oft hart aufeinander – zwischen Solidaritätsbekundungen und Vorwürfen der Einseitigkeit.
Die Stadt Stuttgart betont, dass sie beide Demonstrationsformen zulässt, solange sie friedlich bleiben. Polizeisprecher berichteten von einem ruhigen Verlauf der Kundgebung am 5. Oktober; Zwischenfälle wurden nicht bekannt. Dennoch bleibt das gesellschaftliche Klima angespannt. Während die einen die Freilassung der Geiseln fordern, verlangen andere ein Ende der israelischen Angriffe auf Gaza – eine Polarisierung, die sich auch in Online-Debatten deutlich widerspiegelt.
Welche rechtlichen Kontroversen begleiten die Proteste?
Schon im Vorfeld hatte es Diskussionen um die Grenzen der Meinungsfreiheit gegeben. Besonders die Parole „From the river to the sea“ sorgte bundesweit für Debatten, ob sie als antisemitisch einzustufen sei. Gerichte in Deutschland kamen zu unterschiedlichen Bewertungen, was die Rechtslage komplex macht. Während einige Veranstalter die Parole als legitimen Ausdruck politischer Meinung verteidigen, betrachten andere sie als Aufruf zur Vernichtung Israels. Die Stuttgarter Kundgebung hingegen setzte bewusst auf eine friedliche und wertschätzende Tonlage – ganz ohne provokative Parolen.
Perspektiven aus der Zivilgesellschaft
Ein auffälliger Aspekt der Kundgebung war die Vielfalt der Teilnehmenden. Neben jüdischen Organisationen beteiligten sich auch christliche Gemeinden, Jugendgruppen und Vertreter:innen von Menschenrechtsorganisationen. Viele hatten persönliche Gründe für ihre Teilnahme. Eine junge Studentin sagte: „Ich bin hier, weil es nicht normal sein darf, dass Menschen entführt und gefoltert werden. Egal auf welcher Seite.“
Auch Stimmen aus der muslimischen Community meldeten sich zu Wort. Ein Sprecher einer drusischen Gruppe betonte, dass „Frieden nur durch gegenseitige Anerkennung und die Freilassung der Geiseln erreicht werden kann“. Diese Beiträge verliehen der Kundgebung einen interreligiösen Charakter, der über die politische Dimension hinausging.
Welche Ziele verfolgt die Kundgebung langfristig?
Die Organisatoren erklärten, dass die Kundgebung in Stuttgart nicht als einmaliges Ereignis verstanden werden soll. Vielmehr wolle man ein dauerhaftes Signal setzen – gegen Antisemitismus, gegen das Vergessen und für das Recht auf Leben und Sicherheit. In den kommenden Monaten sind weitere Informationsveranstaltungen, Mahnwachen und interreligiöse Dialogformate geplant. Ziel sei es, das Thema im Bewusstsein der Menschen zu halten und Brücken zwischen den Communities zu bauen.
Hintergrund: Warum der Ort Stuttgart gewählt wurde
Stuttgart hat eine lange Geschichte des interreligiösen Dialogs. Die Stadt gilt als Zentrum der deutsch-israelischen Freundschaftsbewegung in Süddeutschland. Hier befinden sich mehrere aktive DIG-Gruppen, und die IRGW zählt zu den ältesten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Der Marktplatz, wo die Kundgebung stattfand, war bereits mehrfach Schauplatz friedlicher Demonstrationen für Israel – zuletzt im Jahr 2024, als ebenfalls mehrere Hundert Menschen zusammenkamen, um gegen antisemitische Hetze zu protestieren.
Gesellschaftliche Bedeutung der Demonstration
In Zeiten wachsender Spannungen im Nahen Osten gewinnt die öffentliche Meinungsbildung auch in Deutschland an Gewicht. Die Kundgebung in Stuttgart verdeutlicht, dass sich viele Menschen in Deutschland nicht von der Situation abwenden, sondern aktiv Position beziehen. Das macht Mut – gerade in einer Zeit, in der Antisemitismus wieder offener zutage tritt und demokratische Werte infrage gestellt werden.
Viele Redner erinnerten daran, dass Solidarität nicht parteilich, sondern menschlich sein müsse. „Wir stehen heute hier nicht nur für Israel, sondern für die Menschlichkeit“, fasste ein Sprecher der GCJZ die Stimmung des Abends zusammen. Diese Botschaft scheint bei vielen Anwesenden angekommen zu sein: Statt Parolen dominierten Kerzenlicht, Schweigen und Applaus.
Schlussbetrachtung: Zwischen Hoffnung und Verantwortung
Die Stuttgarter Großdemo war mehr als ein politisches Statement – sie war Ausdruck von Mitgefühl, Erinnerung und Verantwortung. Während in Ägypten über die Zukunft der Geiseln verhandelt wird, erinnert die Kundgebung daran, dass hinter jeder Zahl ein Mensch steht. Sie zeigte, dass Solidarität mit Israel und der Wunsch nach Frieden keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer machten deutlich, dass Freiheit und Sicherheit universelle Werte sind, die über nationale Grenzen hinausgehen.
Ob die politischen Gespräche im Nahen Osten zu konkreten Ergebnissen führen, bleibt ungewiss. Doch die Stimmen aus Stuttgart senden ein deutliches Signal: Die Welt schaut hin – und sie vergisst die Geiseln nicht.