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Welche Amokläufe gab es bereits in Österreich: Eine Chronologie der Gewalt

In Aktuelles
Juni 10, 2025
Amoklauf Österreich
GRAZ, 10. JUNI 2025, 17:00 Uhr

Österreich steht unter Schock. Ein weiterer Amoklauf erschüttert das Land, diesmal eine Schule in Graz. Die Tragödie, die sich am heutigen Dienstagvormittag ereignete, forderte zehn Menschenleben – neun Schüler und Mitarbeiter der Bildungseinrichtung – und hinterließ zwölf teils schwer Verletzte. Der 21-jährige Täter, ein ehemaliger Schüler, beging nach der Tat Suizid. Erneut stellt sich die Frage nach dem Warum, nach den Motiven, den Präventionsmöglichkeiten und den tiefgreifenden Auswirkungen solcher Gewalttaten auf eine Gesellschaft.

Die jüngste Tragödie in Graz: Ein Schock für die Nation

Der Morgen des 10. Juni 2025 begann an einem Bundes-Oberstufenrealgymnasium in Graz wie jeder andere. Doch gegen 10:00 Uhr verwandelte sich der Schulalltag in einen Albtraum, als der 21-jährige ehemalige Schüler das Feuer in zwei Klassenzimmern eröffnete. Mit einer Kurz- und einer Langwaffe, die er legal besessen haben soll, nahm er das Leben von neun unschuldigen Menschen und verletzte ein Dutzend weitere. Sechs der Getöteten waren weiblich, drei männlich.

Die Reaktion der Einsatzkräfte war schnell und massiv. Spezialeinheiten wie die Cobra waren binnen Minuten vor Ort. Über 300 Polizeikräfte und 160 Rettungskräfte eilten zum Ort des Geschehens, Rettungshubschrauber kreisten über der Stadt. Das Gebäude wurde evakuiert, Schüler und Lehrkräfte zu sicheren Treffpunkten gebracht. Doch für zehn Familien kam jede Hilfe zu spät.

Die nationale und internationale Anteilnahme ist groß. Bundeskanzler Stocker sprach von einer “nationalen Tragödie” und kündigte eine landesweite Trauerminute und dreitägige Staatstrauer an. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und der deutsche Bundespräsident Steinmeier drückten ihr tiefes Mitgefühl aus. Kirchenvertreter zeigten sich fassungslos und boten den Betroffenen Seelsorge und Hilfe an.

Das Motiv des Täters ist zum aktuellen Zeitpunkt der Ermittlungen noch unbekannt. Medienberichte deuten jedoch darauf hin, dass der Täter sich möglicherweise als Mobbingopfer sah. Die Behörden ermitteln intensiv, um Licht ins Dunkel dieser unfassbaren Tat zu bringen.

Was ist ein Amoklauf? Definition und Merkmale

Um solche Ereignisse einzuordnen, ist es hilfreich, die Definition eines Amoklaufs zu verstehen. Ein Amoklauf bezeichnet die (versuchte) Tötung mehrerer Personen durch einen einzelnen, physisch anwesenden Täter mit (potenziell) tödlichen Waffen innerhalb eines einzigen, zusammenhängenden Tatereignisses. Die Opfer werden dabei oft scheinbar wahllos oder aber auch gezielt ausgewählt.

Die Polizei spricht von einer Amoklage, wenn ein Täter eine zunächst nicht bestimmbare Anzahl von Personen verletzt oder getötet hat oder dies zu erwarten ist, und er weiterhin auf Personen einwirken kann. Diese operative Definition dient der schnellen und angemessenen Reaktion der Einsatzkräfte, um eine weitere Eskalation zu verhindern und die Gefahrenlage unter Kontrolle zu bringen.

Typische Motive und Täterprofile: Eine komplexe Gemengelage

Die Suche nach dem Motiv ist oft das zentrale Element nach einem Amoklauf. Experten und Studien zeigen, dass es kein einfaches, einheitliches Täterprofil gibt, doch lassen sich wiederkehrende Muster erkennen:

  • **Racheakte:** Viele Amokläufe sind Racheakte von Individuen, die sich gedemütigt, ungerecht behandelt oder ausgegrenzt fühlen. Sie suchen oft Aufmerksamkeit und versuchen, durch die Tat ihre vermeintliche Ohnmacht in Macht umzukehren.
  • **Schulen als Tatorte:** Schulen sind häufig Tatorte, da sie Orte hoher sozialer Interaktion, aber auch von Demütigungen, Erwartungsdruck und Mobbing sein können.
  • **Psychische Faktoren:** Obwohl nicht alle Täter psychisch krank sind, weisen viele Amokläufer schlecht ausgeprägte mentale oder emotionale Fähigkeiten, Isolation, wahnhafte Wahrnehmungsstörungen, Gefühle der Hilflosigkeit, geringe Frustrationstoleranz und suizidale Tendenzen auf.
  • **Waffen- und Gewaltaffinität:** Ein auffälliges Interesse an Waffen, Gewalt und früheren Amokläufern, Massen- und Serienmördern ist oft feststellbar.
  • **”Leaks” und Ankündigungen:** Viele Täter lassen ihre Tatgedanken oder -planung oft durchsickern – durch Andeutungen, Drohungen, Zeichnungen, Hasskommentare in sozialen Medien oder persönlichen Gesprächen. Diese “Leaks” sind wichtige, aber oft schwer zu interpretierende Warnsignale.
  • **Soziale Zurückweisung:** Gefühle des Gemobbtenseins, soziale Zurückweisung oder signifikante soziale Verlustereignisse können ebenfalls eine Rolle spielen.

Österreichs Amokläufe: Eine schmerzliche Chronologie

Der aktuelle Vorfall in Graz ist leider nicht der erste, der Österreich in seinen Grundfesten erschüttert. Die Geschichte des Landes ist von mehreren tragischen Amokläufen geprägt, die unterschiedliche Formen annahmen, aber alle tiefe Wunden hinterließen:

DatumOrt/Typ der TatTodesopfer (Täter exkl.)VerletzteKurzbeschreibung
Mai 1997Zöbern, Niederösterreich (Schule)1115-jähriger Schüler erschoss eine Lehrerin, verletzte eine weitere.
Juni 2015Graz (Amokfahrt)336Mann fuhr mit Auto in Menschenmenge in der Innenstadt.
Mai 2018Mistelbach, Niederösterreich (Schule)0118-jähriger Jugendlicher schoss mit Schrotflinte und verletzte einen Schüler.
Juni 2025Graz (Schule)91221-jähriger ehemaliger Schüler tötete 9 Menschen, verletzte 12.

Diese Chronologie verdeutlicht, dass Amoktaten in Österreich, obwohl selten, in verschiedenen Kontexten – von Schulen bis hin zu öffentlichen Plätzen – auftreten können. Jeder Vorfall hat seine eigenen Besonderheiten, doch die Auswirkungen auf die betroffenen Gemeinschaften sind immer verheerend.

Prävention und Nachsorge: Lernen aus der Tragödie

Angesichts der wiederkehrenden Gewaltakte rücken Präventionsmaßnahmen und die langfristige Nachsorge in den Fokus. Die Herausforderung besteht darin, potenzielle Taten zu erkennen und zu verhindern, aber auch die Betroffenen und die Gesellschaft zu unterstützen.

Ganzheitliche Prävention an Schulen

Das Bundesministerium für Bildung betont die Notwendigkeit einer umfassenden Gewaltprävention. Diese sollte nicht nur auf die Schule beschränkt sein, sondern das gesamte Umfeld von Kindern und Jugendlichen umfassen:

  • **Früherkennung:** Sensibilisierung von Lehrkräften, Sozialarbeitern und Eltern für Warnsignale und Verhaltensänderungen bei Schülern.
  • **Krisenstäbe und Notfallpläne:** Schulen sollten über etablierte Krisenstäbe und abgestimmte Notfallpläne mit der Polizei verfügen. Regelmäßige Notfallübungen sind unerlässlich, um im Ernstfall schnell und koordiniert handeln zu können.
  • **Bauliche und technische Sicherheitsmaßnahmen:** Begrenzung der Eingänge, Videoüberwachung und Zutrittskontrollen können die Sicherheit erhöhen, müssen aber im Kontext einer positiven Lernumgebung abgewogen werden.
  • **Psychische Gesundheitsförderung:** Programme zur Förderung der psychischen Gesundheit, Stärkung der sozialen Kompetenzen und des Problembewusstseins sind entscheidend, um Gewalt und Mobbing entgegenzuwirken.
  • **Umgang mit Cybermobbing:** Angesichts der zunehmenden Rolle der digitalen Welt muss Prävention auch den Bereich des Cybermobbings und der Radikalisierung in sozialen Medien umfassen.

Die Rolle der Waffengesetze

Die Tatsache, dass der Täter in Graz seine Waffen legal besaß, befeuert die Diskussion um das österreichische Waffengesetz. Im Vergleich zu einigen anderen europäischen Ländern gilt es als eher liberal, insbesondere bei bestimmten Arten von Faustfeuer- und Langwaffen. Für den Erwerb von Kategorie-B-Waffen ist ein Waffenpass oder eine Waffenbesitzkarte erforderlich, die eine Prüfung der Zuverlässigkeit und einen psychologischen Eignungstest beinhaltet.

Kritiker fordern eine Verschärfung der Gesetze, strengere psychologische Tests und engmaschigere Überprüfungen von Waffenbesitzern. Befürworter verweisen auf die Rechte von Sportschützen und Jägern und argumentieren, dass das Problem eher in psychischen Störungen als im Waffenbesitz an sich liege. Diese Debatte ist komplex und erfordert eine sorgfältige Abwägung von Sicherheit und individuellen Freiheiten.

Langfristige psychische und gesellschaftliche Auswirkungen

Die Folgen von Amokläufen reichen weit über den Tag der Tat hinaus. Opfer, Angehörige, Zeugen, Polizei- und Rettungskräfte leiden oft unter langfristigen psychischen Belastungen, allen voran Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS).

Solche Ereignisse erschüttern auch das kollektive Sicherheitsgefühl einer Gesellschaft, insbesondere wenn sie an Orten passieren, die als sicher und geschützt gelten sollten, wie Schulen. Die Medien spielen eine entscheidende Rolle bei der Verarbeitung des Traumas. Eine reißerische oder detaillierte Darstellung kann Retraumatisierungen fördern, während eine empathische und sachliche Berichterstattung zur Aufarbeitung beitragen kann.

Zudem kann es zu einem Vertrauensverlust in staatliche Institutionen kommen, wenn der Eindruck entsteht, dass Präventionsmaßnahmen unzureichend waren oder nicht schnell genug reagiert wurde.

Wichtige Hilfsangebote für Menschen in psychischen Krisen und bei Suizidgefahr sind verfügbar, darunter die Telefonseelsorge (142) und Rat auf Draht (147).

Die digitale Welt als zweischneidiges Schwert

Die Bedeutung der digitalen Welt kann in der Diskussion um Amokläufe nicht ignoriert werden. Das Internet und soziale Medien dienen Tätern oft zur Vorbereitung, Informationsbeschaffung und manchmal sogar zur Ankündigung ihrer Taten. Foren und Messenger-Dienste können als Echokammern fungieren, in denen sich Gewaltfantasien verstärken.

Gleichzeitig ist Cybermobbing ein zunehmendes Problem, das bei Opfern zu tiefster Verzweiflung und Rachegedanken führen kann. Für Ermittlungsbehörden stellt die Überwachung und Analyse von Online-Kommunikation eine immense Herausforderung dar, um potenzielle Taten frühzeitig zu erkennen. Hier muss ein sensibles Gleichgewicht zwischen Datenschutz und der Notwendigkeit der Prävention gefunden werden.

Gemeinsam Stärke finden

Jeder Amoklauf hinterlässt eine Spur der Verwüstung und unzählige offene Fragen. Die Tragödie in Graz ist ein erneuter, schmerzhafter Weckruf. Sie unterstreicht die Notwendigkeit, sich der komplexen Ursachen von Gewalt anzunehmen: von psychischen Problemen und sozialer Isolation bis hin zu gesellschaftlichen Spannungen und dem Zugang zu Waffen.

Österreichs Gesellschaft steht vor der Aufgabe, nicht nur die unmittelbaren Wunden zu versorgen, sondern auch langfristig Präventionsmaßnahmen zu stärken. Dies erfordert eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung, in der Schulen, Familien, Behörden, Medien und die Politik Hand in Hand arbeiten. Es geht darum, sichere Räume zu schaffen, in denen sich junge Menschen wertgeschätzt fühlen, in denen Mobbing keinen Platz hat und in denen Hilferufe nicht ungehört verhallen. Nur so kann das Land aus diesen schrecklichen Ereignissen lernen und hoffen, dass sich solche Tragödien in Zukunft nicht wiederholen.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.