Finanzaufsicht Gerresheimer entdeckt Unregelmäßigkeiten bei Umsatzverbuchung

In Wirtschaft
Oktober 26, 2025

Düsseldorf. Der Düsseldorfer Verpackungskonzern Gerresheimer steht unter Druck: Eine externe Untersuchung hat Unregelmäßigkeiten bei der Umsatzverbuchung im Geschäftsjahr 2024 offengelegt. Die BaFin prüft nun, ob der MDAX-Konzern Umsätze zu früh bilanziert hat. Für Investoren und Aufsicht ist der Fall mehr als ein Rechenfehler – er ist ein Lackmustest für Vertrauen und Transparenz in der deutschen Industrie.

Der Hintergrund: Auffälligkeiten bei „Bill-and-Hold“-Vereinbarungen

Im Mittelpunkt der aktuellen Untersuchung stehen sogenannte „Bill-and-Hold“-Vereinbarungen. Dabei wird Ware bereits verkauft und fakturiert, verbleibt aber noch im Lager des Herstellers. Diese Praxis ist grundsätzlich erlaubt, setzt jedoch enge Bedingungen voraus: Der Kunde muss die Kontrolle über die Ware erlangt haben, und eine spätere Lieferung darf nicht im Ermessen des Verkäufers stehen. Genau diese Kriterien stehen nun bei Gerresheimer auf dem Prüfstand.

Nach Unternehmensangaben wurden im Geschäftsjahr 2024 Umsätze in einem niedrigen zweistelligen Millionenbereich über derartige Vereinbarungen erzielt. Eine externe, unabhängige Untersuchung stellte jedoch fest, dass bei einem konkreten Vertrag im Volumen von etwa 3 Millionen Euro die Voraussetzungen für eine Umsatzrealisierung im Jahr 2024 „wahrscheinlich nicht erfüllt“ waren. Insgesamt betrifft die Prüfung Vereinbarungen mit einem Gesamtwert von rund 28 Millionen Euro.

BaFin leitet Untersuchung ein

Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) reagierte prompt und kündigte im September 2025 eine offizielle Prüfung des Konzernabschlusses zum 30. November 2024 an. Der Fokus liegt dabei auf den „Bill-and-Hold“-Geschäften, die im letzten Drittel des Geschäftsjahres abgeschlossen wurden. Dabei soll geklärt werden, ob die Umsätze tatsächlich hätten ausgewiesen werden dürfen oder ob eine Korrektur notwendig ist.

Gerresheimer selbst zeigte sich kooperationsbereit: „Wir haben stets nach den geltenden Rechnungslegungsvorschriften gehandelt und arbeiten vollumfänglich mit der BaFin zusammen“, heißt es in einer Unternehmensmitteilung. Transparenz und Compliance, so der Konzern, hätten höchste Priorität.

Reaktion an der Börse: Vertrauen bröckelt

Der Kapitalmarkt reagierte empfindlich. Nachdem die Nachricht über die BaFin-Prüfung öffentlich wurde, fiel die Gerresheimer-Aktie an einem Handelstag um bis zu 38 Prozent. Zwischenzeitlich erreichte der Kurs den niedrigsten Stand seit über einem Jahrzehnt. Binnen eines Jahres hat das Papier rund zwei Drittel seines Wertes verloren – ein dramatischer Vertrauensverlust für einen Konzern, der bislang als solider Mittelständler mit internationalem Fokus galt.

In den sozialen Medien diskutierten Anleger und Analysten heftig über die Hintergründe. Auf Reddit und X (vormals Twitter) wurde insbesondere ein möglicher Zusammenhang zwischen dem Kursverfall und einem kurz zuvor erfolgten Wechsel im Finanzvorstand thematisiert. Einige Nutzer sahen im Kurssturz eine Kaufchance („Buy the Dip“), andere warnten vor weiteren Abwärtsrisiken.

Umsatzverbuchung unter der Lupe

Das zentrale Problem liegt im Kern der Rechnungslegung: Wann darf ein Umsatz als realisiert gelten? Laut IFRS-Regelwerk darf ein Umsatz erst dann ausgewiesen werden, wenn der Kunde die Kontrolle über die Ware oder Dienstleistung übernommen hat. Im Fall von „Bill-and-Hold“-Vereinbarungen kann dies zwar vor der physischen Lieferung erfolgen, allerdings nur, wenn die Vertragsbedingungen eindeutig sind und die Ware nicht mehr ohne Zustimmung des Kunden bewegt werden darf.

Gerresheimer muss nun nachweisen, dass diese Voraussetzungen bei allen 2024 erfassten Geschäften erfüllt waren. Sollte sich herausstellen, dass einzelne Umsätze zu früh verbucht wurden, drohen nicht nur Korrekturen im Jahresabschluss, sondern auch mögliche aufsichtsrechtliche Konsequenzen.

Wie gefährlich sind „Bill-and-Hold“-Vereinbarungen?

„Bill-and-Hold“-Transaktionen gelten in der Finanzwelt als „klassisches Risiko“ bei der Umsatzrealisierung. Eine Analyse der Forensic Risk Alliance bezeichnet sie als „aggressive, aber legale Praxis“, die leicht zur Manipulation missbraucht werden könne, etwa zur künstlichen Aufblähung von Quartalsergebnissen. Die Prüfer müssen sicherstellen, dass keine Gewinne vorgezogen wurden, um das operative Ergebnis besser aussehen zu lassen.

Internationale Dimension

Eine Studie der American Business Academies belegt, dass fehlerhafte Umsatzrealisierungen eine der häufigsten Ursachen für Klagen gegen Wirtschaftsprüfer sind. In den USA gehen laut Schätzungen der SEC über 60 Prozent aller Enforcement-Fälle auf falsche Umsatzverbuchungen zurück. Besonders betroffen sind Industrieunternehmen mit komplexen Lieferketten, da dort die Grenze zwischen Lieferung, Lagerung und Verfügungsgewalt oft schwer zu ziehen ist.

Auch in Europa haben ähnliche Fälle in der Vergangenheit für Aufsehen gesorgt. Der Fall Steinhoff International etwa zeigte, wie manipulierte Umsatzdarstellungen das Vertrauen von Investoren nachhaltig zerstören können. Zwar liegen bei Gerresheimer derzeit keine Anzeichen für systematische Manipulation vor, doch das Risiko einer reputativen Beschädigung ist evident.

Reaktionen aus Finanzkreisen und Sozialen Medien

In Finanzforen wie r/wallstreetbetsGER und r/Aktien spekulieren Nutzer über mögliche Folgen. Während einige den Einbruch als übertrieben ansehen und langfristige Chancen betonen, sehen andere Parallelen zu bekannten Bilanzskandalen. Besonders auffällig ist die Diskussion um den jüngsten CFO-Wechsel, der als Warnsignal interpretiert wird. Viele Anleger äußern den Wunsch nach „mehr Transparenz und weniger Fachjargon“ in den Mitteilungen des Unternehmens.

Ein Nutzer kommentierte: „Wenn eine Firma erst externe Gutachter braucht, um ihre Umsätze zu verstehen, ist das kein gutes Zeichen – egal, wie sie es verkaufen.“ Solche Stimmen zeigen, wie sehr das Thema auch abseits des Börsenparketts Emotionen weckt.

Die Sicht des Unternehmens

Gerresheimer bemüht sich, die Kontrolle über die Erzählung zurückzugewinnen. Der Konzern verweist darauf, dass die „Bill-and-Hold“-Umsätze nur einen geringen Anteil am Gesamtumsatz von über zwei Milliarden Euro ausmachen. Außerdem habe man intern bereits zusätzliche Kontrollmechanismen eingeführt, um ähnliche Unklarheiten künftig zu vermeiden.

„Wir sind überzeugt, dass unsere Bilanzierung korrekt war“, betont das Unternehmen, „doch wir nehmen die Hinweise der externen Prüfer ernst und werden alle notwendigen Anpassungen vornehmen.“ Damit versucht Gerresheimer, das Vertrauen von Investoren und Aufsicht gleichzeitig zu sichern – eine kommunikative Gratwanderung zwischen Transparenz und Schadensbegrenzung.

Fragen, die Anleger bewegen

Wie viele „Bill-and-Hold“-Verträge hat Gerresheimer im Jahr 2024 abgeschlossen?

Nach aktuellen Angaben betrifft es Geschäfte im Umfang eines niedrigen zweistelligen Millionenbetrags. Eine detaillierte Überprüfung läuft. Bisher ist nur ein Fall im Wert von 3 Millionen Euro als potenziell fehlerhaft identifiziert.

Was genau untersucht die BaFin?

Die Finanzaufsicht prüft, ob die Umsätze korrekt den Perioden zugeordnet wurden und ob die Kriterien für die Umsatzrealisierung erfüllt waren. Dabei liegt der Fokus auf Verträgen, die im letzten Drittel des Geschäftsjahres abgeschlossen wurden.

Wie stark hat sich der Aktienkurs verändert?

Seit Beginn der Prüfung verlor die Aktie mehr als ein Drittel ihres Werts. Kurzzeitig notierte das Papier auf dem tiefsten Stand seit 13 Jahren – ein deutliches Signal für das geschwundene Vertrauen der Anleger.

Welche Konsequenzen drohen?

Sollte die BaFin Unregelmäßigkeiten feststellen, könnten Rückstellungen oder sogar eine Korrektur der 2024er Bilanz folgen. Zudem wäre der Imageschaden beträchtlich, was langfristig den Zugang zu Kapitalmärkten erschweren könnte.

Bedeutung für den Finanzmarkt

Der Fall Gerresheimer erinnert daran, wie empfindlich die Kapitalmärkte auf Zweifel an der Rechnungslegung reagieren. Selbst kleinere Unstimmigkeiten können bei börsennotierten Unternehmen zu massiven Kursbewegungen führen. Investoren sehen sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, zwischen tatsächlichen Bilanzierungsproblemen und überzogenen Marktreaktionen zu unterscheiden.

Experten betonen, dass die Kommunikation im Krisenfall entscheidend ist: Wer schnell, transparent und nachvollziehbar informiert, kann das Vertrauen der Märkte oft stabilisieren. In diesem Fall scheint Gerresheimer zwar bemüht, doch viele Beobachter kritisieren die zögerliche Informationspolitik in den ersten Tagen nach Bekanntwerden der Untersuchung.

Auswirkungen auf die Branche

Auch andere Industrieunternehmen dürften den Fall aufmerksam verfolgen. Der Trend zu „Bill-and-Hold“-Modellen hat in den vergangenen Jahren zugenommen, insbesondere in Branchen mit komplexen Lieferketten wie Medizintechnik oder Maschinenbau. Die BaFin-Prüfung bei Gerresheimer könnte Signalwirkung entfalten und zu einer strengeren Überwachung ähnlicher Praktiken führen.

Neue Kontrollen und mögliche Konsequenzen

Gerresheimer hat inzwischen angekündigt, sämtliche „Bill-and-Hold“-Vereinbarungen aus dem Jahr 2024 einer vollständigen Neubewertung zu unterziehen. Zudem sollen interne Richtlinien zur Umsatzrealisierung überarbeitet werden. Damit will das Unternehmen sicherstellen, dass alle zukünftigen Umsätze regelkonform und nachvollziehbar ausgewiesen werden.

Die kommenden Wochen werden zeigen, ob die BaFin zu dem Schluss kommt, dass die Bilanz 2024 angepasst werden muss. Analysten rechnen mit einer Entscheidung noch vor Jahresende. Sollte die Behörde Unregelmäßigkeiten feststellen, könnten zusätzliche Kosten oder Verzögerungen bei der Veröffentlichung des nächsten Geschäftsberichts folgen.

Ein Fall mit Signalwirkung für Anleger und Industrie

Der Fall Gerresheimer ist mehr als ein Buchhaltungsdetail – er wirft ein Schlaglicht auf die Sensibilität moderner Kapitalmärkte. Schon der Verdacht auf fehlerhafte Umsatzrealisierung reicht aus, um Milliardenwerte an der Börse zu bewegen. Für Unternehmen bedeutet das: Bilanzklarheit ist keine Formalie, sondern eine Frage des Vertrauens.

Gerresheimer steht nun vor der Aufgabe, dieses Vertrauen zurückzugewinnen. Sollte sich der Verdacht ausräumen lassen, könnte der Konzern gestärkt aus der Krise hervorgehen – mit einer verbesserten Compliance-Kultur und einem geschärften Bewusstsein für Transparenz. Doch bis dahin bleibt die Unsicherheit, und die Börse wartet auf klare Zahlen und klare Worte.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.