
Los Angeles, 11. Juni 2025, 06:30 Uhr
Die nächtliche Ruhe über Los Angeles wurde am Dienstagabend von einer drastischen Maßnahme überschattet: Bürgermeisterin Karen Bass verhängte eine nächtliche Ausgangssperre über einen Teil der Innenstadt – ein Schritt, der sowohl national als auch international für Aufsehen sorgt. Die Entscheidung erfolgte nach mehreren Nächten zunehmender Gewalt, Vandalismus und politischer Proteste, die insbesondere durch die verschärften ICE-Razzien der US-Regierung ausgelöst worden waren.
Ein Gebiet im Ausnahmezustand
Das betroffene Areal – etwa ein Quadratmeile groß – liegt zwischen den Freeways I-5, I-10 und I-110. Zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens dürfen sich hier keine Personen mehr aufhalten, es sei denn, sie gehören zu definierten Ausnahmegruppen wie Anwohner, registrierte Arbeitnehmer, Medien oder Notfalldienste.
„Wir haben einen Punkt erreicht, an dem Sicherheit und Schutz für die Menschen und ihr Eigentum oberste Priorität haben müssen“, erklärte Bürgermeisterin Bass am Dienstagabend. Sie reagierte damit auf zahlreiche Gewaltausbrüche, bei denen unter anderem 23 Geschäfte geplündert und mehr als 300 Personen festgenommen wurden – allein 200 davon in der Nacht vor der Ankündigung.
Hintergrund: Proteste gegen ICE-Razzien und Trump-Politik
Die Proteste entzündeten sich an mehreren großflächigen Razzien durch die Einwanderungsbehörde ICE, die insbesondere Migrant:innen aus Mexiko, Indonesien, China und weiteren Ländern betrafen. Menschenrechtsorganisationen verurteilten das Vorgehen als unverhältnismäßig. Auch prominente Persönlichkeiten meldeten sich zu Wort: Reality-Star Kim Kardashian appellierte öffentlich an das Mitgefühl der Nation und betonte, dass „unschuldige, hart arbeitende Menschen in unmenschlicher Weise von ihren Familien getrennt werden“.
Die Reaktionen gingen weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus. Konsulate aus China, Großbritannien, Indonesien und Japan äußerten Bedenken, nachdem auch ihre Staatsbürger betroffen waren. Einige Staaten riefen dazu auf, Reisen nach Los Angeles vorübergehend zu vermeiden.
Rechtlicher Konflikt zwischen Bundes- und Landesregierung
Die Eskalation führte zu einem offenen Konflikt zwischen der kalifornischen Landesregierung und dem Weißen Haus. Präsident Donald Trump kündigte an, weitere Truppen nach Los Angeles zu entsenden und berief sich dabei auf den sogenannten Insurrection Act – ein Notstandsgesetz aus dem 19. Jahrhundert, das es erlaubt, bei schweren inneren Unruhen das Militär einzusetzen.
Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom bezeichnete dieses Vorgehen als „beispiellosen Machtmissbrauch“ und reichte rechtliche Schritte ein, um den Einsatz zu stoppen. „California may be first… democracy is next“, sagte Newsom in einem Statement und machte damit deutlich, dass er in dem militärischen Vorgehen eine tiefgreifende Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat sieht.
Wer ist betroffen? Wer ist ausgenommen?
Die nächtliche Ausgangssperre betrifft laut Schätzungen etwa 100.000 Menschen, die in oder nahe dem Sperrgebiet wohnen oder arbeiten. Nicht betroffen sind:
- Bewohner:innen des gesperrten Areals
- Personen mit zwingendem Arbeitsweg
- Medienvertreter:innen mit Akkreditierung
- Mitglieder der Feuerwehr, Polizei und Rettung
- Obdachlose in organisierten Camps, sofern registriert
Kritiker bemängeln jedoch, dass insbesondere nicht gemeldete Obdachlose weiterhin in eine rechtliche Grauzone geraten – sie sind oft nicht registriert und damit potenziell von Festnahmen bedroht.
Statistik: Was bisher geschah
Die folgenden Zahlen zeigen die Eskalation in klarer Form:
Kategorie | Anzahl (Stand: 10. Juni 2025) |
---|---|
Plünderungen registrierter Geschäfte | 23 |
Gesamtzahl Festnahmen seit Freitag | 300+ |
Festnahmen allein am Dienstag | 205 |
Tägliche ICE-Festnahmen (landesweit) | ca. 2.000 |
Entsandte National Guard-Truppen | 4.000+ |
Zusätzlich entsandte US-Marines | 700 |
Finanzielle Belastung durch den Militäreinsatz
Neben den sozialen und politischen Auswirkungen rückt nun auch der finanzielle Aspekt in den Fokus: Der Einsatz der National Guard sowie der Marines soll den Steuerzahler rund 134 Millionen US-Dollar kosten. Vor allem kritisieren Aktivist:innen, dass dieses Geld in soziale Infrastruktur und Deeskalationsmaßnahmen besser investiert gewesen wäre.
Symbolische Sprache: Eskalation der Rhetorik
Die Eskalation zeigt sich nicht nur auf der Straße, sondern auch in der Sprache. Während Präsident Trump von einer „Insurrektion“ spricht und „paid agitators“ verantwortlich macht, reagierte Kaliforniens Regierung mit rechtlichen Schritten und scharfer Kritik. Trump nannte Los Angeles in einer Rede sogar ein „trash heap“ voller „chaos and disorder“.
Donald Trump Jr. befeuerte die Lage zusätzlich durch einen umstrittenen Social-Media-Post, in dem er ein ikonisches Foto der „Rooftop Koreans“ aus den Unruhen von 1992 verbreitete – ein Symbol des bewaffneten Selbstschutzes koreanisch-amerikanischer Ladenbesitzer. Die Korean American Federation bezeichnete den Post als „rücksichtslos und retraumatisierend“.
Historische Parallelen
Die Ausgangssperre reiht sich ein in eine Reihe historischer Notstandsmaßnahmen in Los Angeles. Bereits 1965 (Watts-Unruhen) und 1992 (Rodney-King-Proteste) griffen die Behörden zu ähnlichen Mitteln: Ausgangssperren, Militäreinsätze und Massenverhaftungen. Historiker:innen weisen jedoch darauf hin, dass diese Maßnahmen in der Vergangenheit langfristig kaum zur Stabilisierung beigetragen haben.
Laut einer Studie der University of California aus dem Jahr 2001 führten vergleichbare Ausgangssperren zwischen 1980 und 1997 zu keiner signifikanten Reduktion von Gewalt oder Kriminalität – vielmehr verstärkten sie das Misstrauen in Behörden und erhöhten die gesellschaftliche Fragmentierung.
Wie geht es weiter?
Während erste Gerichtsanträge gegen den Militäreinsatz bereits eingereicht wurden, bleibt offen, ob und wann die Ausgangssperre aufgehoben wird. Die Stadtverwaltung hält sich diesbezüglich bedeckt. Bürgermeisterin Bass kündigte an, dass weitere Maßnahmen „täglich evaluiert“ würden. Aktivistengruppen kündigten derweil an, die Proteste – nun in friedlicher Form – fortzuführen.
Eine Stadt im Ausnahmezustand
Die Situation in Los Angeles ist ein Lehrbeispiel dafür, wie gesellschaftliche, rechtliche und politische Ebenen in einer Krise ineinander greifen. Zwischen legitimen Sicherheitsinteressen und der Gefahr eines autoritären Übergriffs bleibt wenig Raum für Zwischentöne. Die Polarisierung in der Debatte zeigt sich nicht nur in der Politik, sondern auch in den Straßen der Stadt.
Inmitten dieser Spannungen steht eine Frage im Raum, die über Los Angeles hinausweist: Wie weit darf ein Staat gehen, um Ordnung wiederherzustellen – und wann beginnt die Unterdrückung?
Redaktion: N.A.D.R.-Nachrichtenmagazin | Stand: 11. Juni 2025