Stuttgart-Ostendplatz: Wo politische Gegensätze Tür an Tür leben

In Stuttgart
August 10, 2025

Stuttgart-Ost – Der Ostendplatz ist einer jener Orte, an denen sich die politische Landkarte Deutschlands im Kleinen widerspiegelt. Hier, inmitten eines historisch gewachsenen Quartiers, leben Wählerinnen und Wähler der Linken und der AfD buchstäblich Wand an Wand. Zwischen Wochenmarkt, Buslinien und Vereinsleben begegnen sich politische Gegensätze im Alltag – manchmal unbemerkt, manchmal spürbar.

Ein Stadtteil mit politischer Vielfalt

Der Ostendplatz im Herzen von Stuttgart-Ost liegt im Stadtteil Ostheim, einem Gebiet mit einer langen Geschichte sozialer Durchmischung. Ursprünglich Ende des 19. Jahrhunderts als Arbeitersiedlung entstanden, mischten sich hier seit jeher verschiedene soziale Milieus: Arbeiterfamilien, Beamte, Handwerker und später auch Studierende und Zugezogene. Diese Vielfalt spiegelt sich heute in den Wahlergebnissen wider – und sorgt für eine ungewöhnliche politische Nachbarschaft.

Im Wahlkreis Stuttgart I erzielten bei der Bundestagswahl 2025 die Grünen 25,2 % der Zweitstimmen, die CDU 26,2 %, die SPD 15,0 %, die AfD 8,9 % und die Linke 10,8 %. Betrachtet man jedoch einzelne Stimmbezirke rund um den Ostendplatz, treten Abweichungen zutage: In manchen Bezirken erreichen AfD und Linke jeweils über 20 %. Nur wenige Straßen trennen dabei Viertel mit starker grüner Prägung von solchen mit hoher AfD- oder Linke-Unterstützung. Dieses Nebeneinander macht den Ostendplatz zu einem politischen Sonderfall.

Warum wohnen hier Wähler der Linken und der AfD nebeneinander?

Die Antwort liegt in der Struktur des Quartiers. Ostheim ist geprägt von einem Mix aus Altbauwohnungen, gefördertem Wohnraum, kleinen Mehrfamilienhäusern und neueren Sanierungsprojekten. Mietpreise variieren stark, was sowohl einkommensschwächere Haushalte als auch neue, besser verdienende Zuzügler anzieht. Dazu kommt eine zentrale Lage mit guter Anbindung: Der Ostendplatz ist ein Verkehrsknotenpunkt mit Buslinien, der Nähe zum Stadtzentrum und Einkaufsmöglichkeiten.

So entstehen Nachbarschaften, in denen sehr unterschiedliche Lebensrealitäten aufeinandertreffen. Menschen mit linker Weltanschauung, oft aus städtischen, akademisch geprägten Milieus, wohnen Tür an Tür mit konservativen oder protestorientierten Wählergruppen, die sich in der AfD repräsentiert sehen. Diese Nähe wird im Alltag nicht zwangsläufig als konfliktträchtig wahrgenommen – oft spielt sie nur in Wahlkampfzeiten eine größere Rolle.

Alltag zwischen Wochenmarkt und Vereinsleben

Ein prägendes Element im Viertel ist der Wochenmarkt am Ostendzentrum, der jeden Freitag von 10 bis 17 Uhr stattfindet. Hier kaufen Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen ein: junge Familien, Rentner, Studierende, alteingesessene Stuttgarter und Zugewanderte. Der Markt fungiert als Treffpunkt, an dem politische Unterschiede in den Hintergrund treten. Auch die lokale Vereinslandschaft – von Sport- bis Kulturvereinen – trägt zu einem regen Austausch bei.

„Ich stehe seit über 15 Jahren hier mit meiner Drehorgel“, erzählt Dirk, ein bekannter Straßenmusiker am Ostendplatz. „Man sieht alles – vom Banker bis zum Handwerker, vom Punker bis zur Oma mit Einkaufskorb.“ Solche Stimmen verdeutlichen, wie selbstverständlich das Nebeneinander unterschiedlicher Lebensentwürfe hier ist.

Ein Ort im Wandel

Viele Bewohner berichten von einem sichtbaren Wandel im Viertel. In sozialen Medien, etwa im Subreddit r/stuttgart, ist der Satz „Der Osten kommt!“ zu lesen – eine Anspielung auf die zunehmende Attraktivität des Quartiers. Neue Cafés, sanierte Häuser und steigende Mieten sorgen dafür, dass das Viertel sowohl bei jungen Berufstätigen als auch bei Familien beliebt wird. Doch Gentrifizierung ist nicht unumstritten: „Als da plötzlich das Lumen drin war, war’s aus mit dem Westen… ein sehr offensichtlicher Indikator, dass die Gentrifizierung die Oberhand hat“, kommentierte ein Nutzer im Forum.

Mobilität als Streitpunkt

In Foren und lokalen Gruppen taucht immer wieder ein Thema auf: die Verkehrsanbindung. Zwar ist der Ostendplatz gut mit Bussen erschlossen, doch fehlt seit Jahrzehnten eine Straßenbahnverbindung über Gablenberg. Diskussionen über neue Buslinien, Tunneloptionen oder den Ausbau des ÖPNV sind Dauerbrenner. Anfang 2025 sorgte etwa eine marode Fassade dafür, dass die Buslinie 42 zeitweise nur in eine Richtung fuhr – eine kleine Störung, die für viele Pendler jedoch großen Ärger bedeutete.

Sicherheitsgefühl und Realität

Die Stuttgarter Sicherheitsbefragung 2023 zeigt, dass das subjektive Sicherheitsgefühl im Osten durchaus hoch ist. Zwar gibt es punktuell Sorgen vor nächtlicher Kriminalität, doch statistisch ist das Viertel unauffällig. Dieses Auseinanderklaffen von Wahrnehmung und Daten ist typisch für innerstädtische Quartiere mit sozialer Mischung.

Wahlmuster im Mikrokosmos Ostendplatz

Die politischen Muster im Umfeld des Ostendplatzes sind ein Paradebeispiel für Forschungsergebnisse von Wahlgeografen. Der Kölner Sozialwissenschaftler Ansgar Hudde beschreibt in seinen Analysen vier Haupttypen politischer Räume, darunter solche, in denen sowohl AfD als auch Linke stark vertreten sind. Am Ostendplatz treffen diese Milieus unmittelbar aufeinander. Die „Tür-an-Tür“-Situation entsteht hier nicht durch bewusste Nähe, sondern durch die historisch gewachsene Struktur des Quartiers.

Zweitstimmenanteile im Wahlkreis Stuttgart I (2025)

ParteiZweitstimmenanteil
CDU26,2 %
Grüne25,2 %
SPD15,0 %
Linke10,8 %
AfD8,9 %

Nachbarschaftsinitiativen und Engagement

Das politische Engagement in Stuttgart-Ost ist vielfältig. Anti-Rechts-Initiativen organisieren regelmäßig Kundgebungen, wie etwa zum Internationalen Frauentag. Auf der anderen Seite nutzen lokale Parteigruppen den Ostendplatz als Bühne für Informationsstände. Quartiersmanagement und Vereine fördern Nachbarschaftsprojekte, die unabhängig von Parteipräferenzen funktionieren – von Straßenfesten bis zu Kulturveranstaltungen.

Wie nehmen Bewohner die politische Mischung wahr?

Fragt man vor Ort, berichten viele, dass Politik im Alltag eine untergeordnete Rolle spielt. „Ich kenne meine Nachbarn seit Jahren, und wir reden eher über das Wetter oder den Verkehr als über Wahlen“, meint eine Anwohnerin. Andere betonen, dass Diskussionen lebhafter werden, je näher der Wahltermin rückt – besonders, wenn Wahlplakate im Straßenbild auftauchen.

Ein Raum der Begegnung

Der Ostendplatz ist nicht nur ein politischer Mikrokosmos, sondern auch ein Ort, an dem urbane Diversität erlebbar wird. Wochenmarkt, kleine Läden, Cafés, Sportvereine und regelmäßige Veranstaltungen sorgen für Begegnungen, die politische Unterschiede überbrücken können. Auch wenn Wähler der Linken und der AfD hier direkt nebeneinander leben, bleibt der Alltag geprägt von Normalität, nicht von Konfrontation.

Soziale Mischung als Chance und Herausforderung

Die soziale Durchmischung ist Chance und Herausforderung zugleich. Einerseits ermöglicht sie Begegnung, gegenseitiges Verständnis und kulturelle Vielfalt. Andererseits kann sie Spannungen hervorrufen, wenn wirtschaftliche Entwicklungen wie steigende Mieten oder bauliche Veränderungen einzelne Gruppen verdrängen. Der Ostendplatz steht exemplarisch für viele deutsche Städte, in denen sich diese Dynamik beobachten lässt.

Ausblick für den Ostendplatz

Mit weiteren Sanierungsprojekten, neuen gastronomischen Angeboten und einem wachsenden kulturellen Programm dürfte der Ostendplatz auch in den kommenden Jahren ein spannender Ort bleiben. Ob die politische Vielfalt erhalten bleibt, hängt davon ab, wie sich der Wohnungsmarkt und die soziale Struktur entwickeln. Fest steht: Der Ostendplatz bleibt ein Ort, an dem die politischen Gegensätze Deutschlands in direkter Nachbarschaft leben – und das macht ihn einzigartig.

Wer hier über den Markt bummelt oder den Bus Richtung Innenstadt nimmt, sieht nicht auf den ersten Blick, wer welches Parteibuch hat. Und vielleicht liegt gerade darin die besondere Qualität dieses Viertels: Politik ist präsent, aber nicht trennend – und Nachbarschaft funktioniert trotz, oder vielleicht gerade wegen, der Unterschiede.

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Als Autor für das Magazin "Nah am digitalen Rand" verbinde ich meine Germanistik-Expertise mit einem unstillbaren Interesse für redaktionell spannende Themen. Meine Leidenschaft gilt der Erforschung und dem Verständnis der digitalen Evolution unserer Sprache, ein Bereich, der mich stets zu tiefgründigen Analysen und Artikeln inspiriert.